Die Autonomie des Bildes: Der Maler Brabanzio

Von Michael Mandelartz

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Auszug aus: Poetik und Historik. Christliche und jüdische Geschichtstheologie in den historischen Romanen von Leo Perutz.

Die Malerei ist eine stumme Dichtung und die Poesie ist eine
blinde Malerei. Die Malerei ist eine Poesie, die man sieht und
nicht hört, die Poesie ist eine Malerei, die man hört und
nicht sieht. Diese beiden Poesien oder, wenn du willst,
diese beiden Malereien haben die Sinne ausgetauscht.

Leonardo da Vinci, Der Paragone

Die Novelle Der Maler Brabanzio reflektiert ganz offensichtlich das 'Wesen' der Kunst — und zwar der bildenden Kunst und der Literatur gleichermaßen. Die Interpretation wird zeigen, daß die gleichzeitige Thematisierung beider Gattungen insofern nicht zufällig ist, als jede nur durch die Hereinnahme der anderen bedeutend werden kann. Erst die Vermittlung der beiden grundlegenden Erscheinungsformen von Literatur und bildender Kunst — zeitliche Erstreckung einerseits, zeitlose Gestalt andererseits, Wort und Bild — erlaubt die Konstruktion der 'lebendigen Gestalt'

Die Novelle entwickelt diese Dialektik in verschiedenen Stufen. Zunächst verweist die einführende Charakteristik des Malers schon auf die Vermittlung von Zeit und Zeitlosigkeit: als 'Landstreicher und Vagant' (NA 146) überläßt er sich dem Fluß der Zeit, ohne irgendeine feste Ordnung, sei es der Gesellschaft oder der zunftmäßig organisierten Malerschulen, anzuerkennen. Er

hatte nämlich seine eigenen Anschauungen über die Malkunst und wollte sich den Weisungen des Meisters nicht fügen. Auch sonst war er von unruhiger Gemütsart, er führte, wo immer er sich befand, rebellische Reden gegen die Obrigkeit [...] (ebd.).

In seinen Werken überschreitet er dennoch die Zeit; statt sich aber im Sinne der 'Meister' auf die Ewigkeit zu beziehen, hält er den Augenblick fest.

Den Flickschneider verdroß es, daß sein Bruder nicht die ehrbaren Leute malte und auch nicht die Muttergottes und die lieben Heiligen, sondern immer nur geringes Volk und liederliches Gesindel [...] (NA 147).1

Die Handlung setzt mit Rudolfs Interesse an einem dieser Bildchen, flüchtige[n] Skizzen und Entwürfe ein, das ihm zufällig zu Gesicht (NA 147) kommt. Die folgende Reflexion über das Verhältnis von bildender Kunst und Literatur kündigt sich in dem Umstand an, daß Rudolf den Maler

in der Tracht eines öffentlichen Schreibers, in ausgetretenen Schuhen also und schäbigem Rock, zwei Kielfedern und ein Tintenfaß im Gürtel und um den Hals eine Kette, an der ein Medaillon mit dem Bildnis der heiligen Katharina befestigt war, die die Schutzpatronin aller Schreiber ist (NA 148, Hervorh. v. mir),

in der Schneiderwerkstatt seines Bruders aufsucht. Bevor der vorgebliche Schreiber selbst in die Dialektik von Schrift und Bild einbezogen wird, zeigt sich ihm beim Eintritt in die Werkstatt eine Konstellation der bereits anwesenden Personen, die ihre Elemente in nuce enthält (vgl. NA 148f). Der Bildcharakter der Situation wird — obschon sie dynamische Elemente enthält — dadurch unterstrichen, daß die Handlung während der Bildbeschreibung aussetzt. Sie wird eingeführt mit dem Satz Dann trat er in die Werkstätte ein (NA 148) und abgeschlossen mit: Rudolf II., der römische Kaiser, zog die Türe hinter sich zu und lüftete sein Hütchen (NA 149). Der Augenblickscharakter des Bildes deutet zugleich auf eine Geschlossenheit der Struktur, die erst mit Rudolfs — und später Meisls — Eintritt in die Werkstatt gestört wird. Die Elemente der Dialektik zwischen Zeitlosigkeit und Zeit, Bild und Text, hier zunächst durch das Bruderpaar Maler und Flickschneider repräsentiert, sind in ihm noch kaum auseinandergetreten.

Die Profession des Flickschneiders ist zunächst einmal wegen der Bearbeitung von Geweben als Metapher für die Herstellung von Texten2 erkennbar und somit dem Beruf seines Bruders diametral entgegengesetzt. Was er flickt, ist die offenbar schadhaft gewordene Totalität, der Zusammenhang des 'Ganzen', den auch der Roman darzustellen beabsichtigt: Einen alten Mantel von der Art, die man Surtout3 nannte, hatte er vor sich ausgebreitet, um das schadhaft gewordene Futter zu erneuern. (NA 148) Für den Flickschneider scheint die Störung des Zusammenhangs des 'Ganzen' seines Horizontes durchaus noch zu bewältigen zu sein. Seine Weltkenntnis beschränkt sich im wesentlichen auf die von ihm geflickten Hosen und seine eigenen Leiden.

Ich begegne oft einer Hose, die ich geflickt habe, auf der Straße, sehe ihr nach, weil das so meine Gewohnheit ist, aber ich erkenne sie nicht wieder. Man kann, weißt du, nicht alles im Kopf behalten. (NA 160)

Rudolf gegenüber beklagt er sein Magenübel:

Bei Euch ist's also die Brust. Bei mir ist's der Magen, der mir zu schaffen macht. Ein Brot mit Schmalz, ein Stückchen Bratwurst, — das geht noch. Aber wenn ich dann einen Schluck Bier dazu trinke, kommen alle Leiden der heiligen Märtyrer über mich. (NA 149f)

Trotz dieses engen Horizontes schließt sich ihm nicht alles fraglos zur Einheit zusammen. Seine Brille, die er unaufhörlich zurecht rückte (NA 148), deutet auf den selbst zur Konstituierung eines solch naiven Weltbildes notwendigen Perspektivenwechsel, und das 'Ganze', das er in Form des Surtout vor sich ausbreitet, wird im Zuge seiner Tätigkeit immer mehr zum Flickwerk. Auch bilden seine Extremitäten einen Dualismus, dessen Pole er im Wechsel auf eines bezieht: Der Flickschneider [...] saß auf einem Schemel und wärmte sich bald den einen, bald den anderen Fuß über einem Messingbecken, in dem ein Häuflein Kohle glühte. (Ebd.) Stellt so der Flickschneider eine 'kleine Welt' dar, so sind die Pole, die er auf einem Schemel sitzend vereint, für seinen Bruder schon weiter auseinandergetreten. Während die 'kleine Welt' des einen als Surtout vor ihm ausgebreitet liegt, bereist der andere als Vagant die 'große Welt', um sie im Bild zusammenzufassen. Dem Maler steht die Welt als eine Sammlung verstreuter Objekte gegenüber, die er sich mit wenigen Strichen (NA 146) subjektiv aneignet. Auch die in Rede stehende Situation in der Schneiderwerkstatt ist von diesem Gegensatz geprägt: der Maler und sein Modell, ein Moldauflößer in seinem Sonntagsstaat (NA 149), bilden zunächst einmal einen Subjekt-Objekt-Gegensatz. Der Flößer, dessen eigentliches Element der Fluß, d.h. hier die unbewußte Hingabe an die Zeit ist, kommt dem Maler gegenüber weder in seiner Alltäglichkeit noch mit seinem Anspruch, seinen neuen Sonntagsrock abgebildet zu sehen, zur Geltung. Brabanzio zwingt ihn in eine Situation, die er nicht zu bewältigen weiß, um ihn verfremdet darstellen zu können:

Der Maler hatte ihm eingeschärft, sich nicht zu rühren, und so fürchtete er, daß er mit einer ungeschickten Bewegung seiner Hände irgend etwas in der Werkstatt zerstören oder verderben könnte. Aber just dieser kindlich unbeholfene und ein wenig gequälte Ausdruck des bärtigen Gesichts war es, was der Maler zu sehen und festzuhalten wünschte. (Ebd.)

Die für den Maler charakteristische Subjekt-Objekt-Trennung überträgt sich als 'Qual' auf sein Modell. Der vor Angst schwitzende[...] Flößer (ebd.) sitzt daher auf zwei Stühlen (NA 148), während dem 'naiven' Schneider ein Schemel genügt.

Das Rudolf beim Eintritt in die Werkstatt sich bietende Bild dreier Personen stellt verschiedene Stufen der Dialektik vor, in der sich die Vielheit zur Einheit zusammenschließen läßt. Dem Weltbild des Schneiders, in dem Subjekt und Objekt nahezu zusammenfallen, schließt sich die problematischere Weltsicht des Malers an. Mit der Fertigstellung des Porträts gelingt Brabanzio hier aber noch die — subjektive — Darstellung der Welt im Bilde des Moldauflößers, und mit der Reflexion im Bild schließt sich auch die 'trinitarische' Konstellation von Flickschneider, Maler und Moldauflößer in der Werkstatt zur Totalität. Text und Bild sind in dem Bruderpaar noch so unmittelbar aufeinander bezogen, daß ihre Vermittlung aufgeht. Mit dem Eintritt Rudolfs und Meisls, deren Vermittlung sich über seinen Kopf hinweg vollzieht, beginnt dagegen die mit dem Tod endende Tragödie des Malers.

Nachdem Brabanzio das Porträt beendet und dem enttäuschten Moldauflößer die Türe gewiesen hat, bemerkt Rudolf

ein kleines, in Wasserfarben gemaltes Bild [...], das an der Wand befestigt war. Es stellte eben jenes Gärtchen vor, durch das der Kaiser kurz zuvor gegangen war, ohne ihm einen Blick zu schenken. Nicht viel anderes war auf dem Bild zu sehen als ein Schlehdornbusch und ein entlaubter Baum mit dünnem Geäste, eine Schneepfütze und die Latten eines Zauns, aber über all dem lag ein Zauber, der mit Worten nicht auszudrücken war, — winterliche Schwermut und Vorahnung des Frühlings oder vielleicht auch nur jene Anmut, die bisweilen der Armseligkeit und der Unscheinbarkeit zu eigen ist. (NA 151)

Des Malers Talent, einer alltäglichen Situation mit wenigen Strichen Bedeutung zu verleihen, wird auch an diesem Aquarell deutlich: bevor der Kaiser die Werkstatt betritt, geht er mit vorsichtigen Schritten über den durchweichten Boden eines schmalen und jammervoll kahlen Gärtleins, in dem eine Katze hinter den Sperlingen her war (NA 148). Eben diesem wenig ansprechenden Garten kommt im Bild eine Bedeutung zu, die sich der Anordnung seiner Elemente, der Bildkomposition verdankt, ohne im Garten selbst angelegt zu sein. Diesen durchquert der Kaiser, ohne ihm einen Blick zu schenken, während er das Aquarell als das Werk eines großen Meisters (NA 152) erkennt. In der Komposition sind wiederum Gegensätze aufeinander bezogen, die sich reflexiv zur Totalität schließen: der Schlehdornbusch verweist auf das Leben,4 der entlaubte Baum auf den Tod,5 die Latten eines Zauns auf die zwischen ihnen errichtete Grenze. Indem das Bild diese drei Elemente innerhalb des geschlossenen Rahmens aufeinander bezieht, hebt es ihre Trennung zugleich auf; die solcherart in ihm dargestellte Einheit der Gegensätze aber reflektiert das Bild selbst noch einmal im Motiv der Schneepfütze, die für den Flickschneider als Kotlacken (NA 152) das gesamte Bild repräsentiert. Es kann wohl angenommen werden, in ihr spiegele sich der Himmel, so daß die materielle Welt der Gegensätze ('Kot') und die Welt reiner Harmonie ('Schnee' bzw. 'Himmel') in ihr noch einmal zusammenfallen.6

Medium der bildenden Kunst ist die Anschauung, Medium der Literatur die Sprache. Jene gibt Gestalten außerhalb der Zeit auf der Fläche, diese in der Aneinanderreihung von Worten bloße zeitliche Erstreckung ohne Gestalt. Nur im Bezug der beiden Gattungen aufeinander stellt sich der Zauber (NA 152) her, der über Brabanzios Aquarell liegt, denn Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.7

Brabanzio hat eine eigene 'Technik' entwickelt, die es ihm erlaubt, sprachlich faßbare Gehalte indirekt im Bild darzustellen:

Wenn ich eines Menschen Bildnis male, sagte er mehr zu sich als zu ihm [dem Kaiser], so ist's mir nicht genug, daß ich sein Gesicht betrachte, das wandelbar ist und heute so aussieht und morgen anders. Ich stelle ihm Fragen, und ich lasse nicht nach, ehe ich ihm nicht ins Herz geblickt habe. Denn nur so bringe ich etwas Gutes zuwege. (NA 156)

Der Maler rekurriert auf die Sprache, wie umgekehrt der Erzähler des Romans auf Bilder rekurriert, um im jeweils eigenen Ausdrucksmedium beiden Seiten der Wirklichkeit, ihrer sprachlich faßbaren 'Tiefe' (dem 'Herz') und ihrer anschaulichen Oberfläche gerecht werden zu können. Brabanzio kann den Sinn der dargestellten Gegenständlichkeit — eines 'wandelbaren Gesichts' oder eines jammervoll kahlen Gärtleins — mittels seiner 'Befragungstechnik' der Komposition zugrundelegen.

Eine ähnliche Vertiefung der bildenden Kunst wie hier Brabanzio intendiert Leonardo da Vinci in Perutz' posthum veröffentlichtem Roman Der Judas des Leonardo durch die Verschmelzung verschiedener Zustände des dargestellten Gegenstandes in dem einen Augenblick der Abbildung. Seine Bildkomposition zur Anbetung der Hirten faßt verschiedene Phasen der Reaktion eines Tauben auf die von den Engeln verkündete Weihnachtsbotschaft zusammen:

Was nun diesen Tauben betrifft, der auch die Botschaft des Heils empfangen soll, so kam es mir in den Sinn, daß es sehr wichtig sei, den Wechsel im Ausdruck des Gesichtes zu beobachten und zu verfolgen, wie die dumpfe Gleichgültigkeit, die er gegenüber allem Geschehen, das nicht ihn selbst betrifft, zur Schau trägt, aus seinen Zügen verdrängt wird erst durch die Unruhe, die ihre Ursache noch nicht kennt, dann durch die Qual des Nichtverstehenkönnens und durch die Furcht, es könnte etwas für ihn Schlimmes sich ereignet haben. Nun aber kommt der Augenblick, in dem er mehr ahnt als begreift, daß auch ihm das Heil widerfahren ist, doch in seinem Gesicht spiegelt sich noch nicht die freudige Erregung, sondern zunächst nur die Ungeduld, weil er jetzt alles rasch erfahren möchte. Um aber all dies mit dem Stifte in meinem Büchlein festzuhalten, bedurfte ich für einige Zeit des Umganges mit einem Tauben. Einen solchen aber fand ich nicht - (JL 18)

Die Anbetung der Hirten bleibt unvollendet, weil Lorenzo de Medici einen Verbannten, um ihn zu bestrafen und in der Meinung, mir damit gefällig zu sein, [...] des Gehörs berauben (JL 19) läßt. Die dem Tauben gegenüber empfundene Schuld verhindert die intendierte simultane Darstellung der Sukzession bzw. die Aufhebung der Sprache (der Engel) im Bild. Das Scheitern von Leonardos malerischem Versuch setzt aber umgekehrt eine Geschichte frei, die von einem Bild erzählt, die Simultaneität also in der Sukzession aufhebt.

Ihr habt, Messer Leonardo, sagte der Herzog nach einer kurzen Weile des Schweigens, uns diese wunderbare 'Anbetung', wie sie nach Euern Plänen hätte werden sollen, mit großer Eindringlichkeit vor Augen geführt, und es ist ein Jammer, daß die viele Mühe, die Ihr damals aufgewendet habt, kein anderes Ergebnis gezeitigt hat als diese kleine Geschichte, die traurig klang, doch, von Euch erzählt, schön anzuhören war. [...] (JL 20)

Das poetische Programm des Judas des Leonardo stimmt also mit dem von NA überein: es geht beide Male um die Verschränkung der medialen Möglichkeiten von Bild- und Sprachkunst, wie sie Leonardo da Vinci in dem zu Beginn des Kapitels zitierten Motto fordert.8 Dennoch gehen die beiden Kunstformen nicht restlos ineinander auf, sondern der gegenläufige Komplementierungsprozeß setzt sich gerade im Scheitern fort, wie das Beispiel Leonardos zeigt. Daher führt auch der Erzähler von NA einen Maler ein, der seinerseits seine Modelle erzählen läßt, um sie angemessen abbilden zu können.

Hinsichtlich des von Meisl bestellten Porträts seiner verstorbenen Frau Esther ist des Malers 'Befragungstechnik' freilich nicht anwendbar, denn sie erfordert die Präsenz der ganzen Person, um ihre beiden Seiten — inneres 'Wesen' und äußere Erscheinung — im Bilde zusammenbringen zu können. Nun sind mit Meisl und dem Kaiser zwar die Zeugen für beide Seiten Esthers in der Werkstatt versammelt, aber Meisl erkannte den Kaiser nicht und der Kaiser nicht ihn (NA 155), die Vermittlung beider Pole im Bild ist somit ausgeschlossen. Auf des Malers Fragen beschreibt Meisl, dem Esther zu Lebzeiten ihre 'Tagseite' zuwandte, metaphorisch ihre Außenseite, ihr äußeres Erscheinungsbild und ihre Fertigkeiten:

Wie ein Ganzopfer war sie, so schön und ohne Fehle, sprach der Mordechai Meisl weiter. Wie eine Blume des Feldes war sie, sehr lieblich in den Augen derer, die sie sahen. Ja, und sie konnte auch schreiben, lesen und Rechungen machen, aus Seide verfertigte sie kleine Handarbeiten, und wenn ich mit ihr bei Tische saß, wartete sie mir artig auf. So klug war sie, hätte vor dem Kaiser reden können. [...] (NA 157)

Rudolf dagegen ist ausschließlich an der Innenseite Esthers interessiert, die sie ihm als seine Traumgeliebte zeigt.9 Die verschiedenen Seiten, die Esther ihnen zuwendet, haben aber für beide dieselbe Funktion, ihrem Leben Sinn zu verleihen. Meisl bezeichnet sie daher als die Krone meines Hauptes (ebd.), Rudolf findet bei ihr Klarheit, die das durch Untreue, Arglist, Lüge und Verrat (NA 101f) gekennzeichnete Wesen der Welt verscheucht. Während die Art ihrer Beziehungen zu Esther verschieden ist, ist das Gefühl des Verlusts bei beiden identisch: was beiden bleibt, ist die Negativität des Lebens, seine Mühe und Plage (vgl. 101).

[...] Der Tag vergeht in Mühe und Plage, bisweilen bringen die Nächte Vergessen, doch an jedem neuen Morgen kommt das alte Leid.
Und wie das der Mordechai Meisl sagte, da widerfuhr dem Kaiser etwas Seltsames. Es war ihm, als hätte er selbst diese Worte gesprochen und nicht der Jude. An jedem neuen Morgen kommt das alte Leid, — sein eigenes Schicksal war in jenen Worten umschlossen, ihm erging es so seit jener Nacht, in der ihm seine Traumgeliebte entrissen worden war. (NA 158)

Des Malers Technik, das Wesentliche einer Person ins Bild zu bringen, kommt so doch noch zum Zuge. Kann der Maler Meisls Versuche, ihm ein Bild Esthers durch die Rede zu vermitteln, schließlich nur mit einem Achselzucken quittieren (NA 159), so löst er doch bei Rudolf eine Erinnerung an Esther aus, die er im Bild festzuhalten versucht.

Er saß verloren in Gedanken. Was der Maler und der Jude miteinander sprachen, hörte er nicht mehr. Er vergaß, wo er sich befand. Von jenen Worten beschworen stieg das Bild der Traumgeliebten vor seinen Augen auf, er sah sie so klar, so deutlich wie nie zuvor. In völliger Entrücktheit holte er, um sie festzuhalten, den Silberstift aus einer der Taschen seines Rocks hervor und griff nach einem Blatt Papier.
Als er das Bild beendet hatte, wich der Bann von ihm. (NA 158)

Anders als Brabanzio beherrscht der 'kaiserliche Dilettant' (NA 160) aber nicht die Umsetzung des innerlich geschauten Wesentlichen in die Erscheinung durch die Komposition eines Bildes. Was er mit dem Silberstift aufs Papier bringt, ist daher bloß die äußere Erscheinung Esthers, wie er sie beim Ritt in die Judenstadt erstmals sah:

Er sah es nochmals an, aber je länger er es betrachtete, desto weniger befriedigte es ihn. Er seufzte und schüttelte den Kopf.
Nein, sie war es nicht. Eine andere war es, ihr in manchem ähnlich, aber nicht sie. Ein Judenmädchen mit großen erschrockenen Augen,10 auf die vielleicht damals, als er durch die Gassen der Judenstadt ritt, sein Blick gefallen war. Aber nicht sie, seine Traumgeliebte. (NA 158f)

Meisls Reaktion auf das Bildnis Esthers bestätigt noch einmal die Auffassung, ihm gehe es um ihre äußere Erscheinung. Der Wesenlosigkeit seiner Geschäfte entspricht die Wesenlosigkeit des Bildes, das ihm dennoch genügt, um seine Mühe und Plage zu vergessen und mit neuer Kraft Gewinne zu erwirtschaften, wie es die folgende Geschichte Der vergessene Alchimist bereits voraussetzt. Rudolf hatte das Bild achtlos (NA 159) fallenlassen und die Schneiderwerkstatt verlassen.

Der Mordechai Meisl hob es auf, hielt es einen Augenblick lang in der Hand, dann sah er das Bild und stieß einen Schrei aus. Das ist sie ja, rief er. Warum habt Ihr mir nicht gesagt, daß Ihr's [Brabanzio] schon gemacht habt? Ihr laßt mich reden, sagt kein Wort. Ja, das ist sie. Mein Täubchen! Meine Seele!

Freilich äußert sich in Meisls Worten auch die Anerkenntnis der wirklichen Esther, die Rudolf im Vergleich mit seiner makellosen Traumgeliebten verwirft. Die Gegensatzpaare 'Wesen und Schein' sowie 'Traum und Realität' werden somit auf beide in umgekehrter Proportion bezogen: Rudolf wendet sich dem Wesen Esthers im Traum zu, Meisl ihrer realen Erscheinung.

Die Technik des Malers liegt dem Bild Esthers zwar formal zugrunde, denn Brabanzios Fragen nach dem 'Wesen' Esthers regen Rudolf erst zu dem Porträt an. Dennoch gelingt die Vermittlung ihrer beiden Seiten im Bilde nicht, und Brabanzio erkennt es nicht als sein eigenes Werk an: Es sah auch nicht so aus, als hätte ich es gemacht (NA 160). Indem er von Meisl acht Gulden annimmt, verschuldet er sich bei Rudolf, dem sie zustehen, und setzt damit einen ähnlichen Prozeß in Gang, wie ihn Rudolf mit der Entwendung des Talers initiierte: er verläßt seine Heimat und zieht erneut in die Welt. Nach Aussage des Erzählers stirbt er in Venedig an der Pest, hinterläßt aber ein Selbstporträt, das erstaunliche Parallelen zum Roman aufweist:

Es hängt in einer kleinen Privatgalerie in Mailand und stellt einen Mann dar, der in einer Hafenkneipe sitzt, vielleicht ihn selbst, und zwei alte häßliche Weiber drängen sich an ihn heran, um ihn zu umarmen, und die eine ist, denk' ich mir, die Pestilenz, und die andere, grau wie ein Leichentuch, ist die Vergessenheit. (NA 161)

Wie Brabanzio sich zwischen Pestilenz und Vergessenheit darstellt, so wird das Spielfeld des Romans von der 'Pest in der Judenstadt' und dem Verschwinden von Meisls Gut als Wolke von rötlichgrauem Staub (NA 267) begrenzt. Brabanzio bewahrt sein Bild der Nachwelt auf, indem er die Bedingungen geschichtlicher Entwicklung, Tod und Vergessen, reflexiv in das Bild hineinnimmt.11 So entsteht ein in sich geschlossenes Bild, in dem sich die Komposition des Romans reflektiert und ihrerseits abschließt. Das Bild hängt in einer 'Privat-galerie in Mai-land', schließt sich also ebenso wie nach innen nach außen ab, wie der Roman eine Zukunft erwartend, in der man es zu lesen versteht.

 

Anmerkungen

1 Vgl. auch NA 146: In den Bauernschenken weiß man seine Fähigkeit zu schätzen, mit wenigen Strichen die Gesichter seiner Zechkumpane festzuhalten.

2 Lat. textum 'Gewebe'.

3 Frz. Sur tout 'über alles' — Von der Gnosis über die jüdische Mystik bis in die neuere Literatur zieht sich die Tradition der Metapher von der Welt als 'Kleid Gottes'. Vgl. z.B. Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Frankfurt 31981, S. 61ff und Nestroys 'Talisman' II,22, wo es heißt: Ja, die Zeit, das is halt der lange Schneiderg'sell, der in der Werkstatt der Ewigkeit alles zum Ändern kriegt. Manchmal geht die Arbeit g'schwind, manchmal langsam, aber firtig wird's, da nutzt amal nix, g'ändert wird all's! Johann Nestroy, Komödien. 3 Bde. Hg.v. F.Mautner, Frankfurt 1970, Bd. 2, S. 323 (Den Hinweis verdanke ich Herrn Dr.phil. Hauke Stroszeck).

4 Vgl. z.B. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 7, Sp. 1205, Art. 'Schlehe'.

5 Der entlaubte Baum gehört zu den Leitmotiven im Werk von Perutz und steht stets im Zusammenhang mit dem Motiv des Todes. Vgl. z.B. NA 13: Die Bäume [im 'Garten der Toten'] streckten ihre entlaubten Äste wie in verstörter Klage zu den Wolken des Himmels empor, NA 128: Hier in diesem Park [der Lucrezia von Landeck] war Stille, nichts regte sich, nur der Wind fuhr klagend durch die entlaubten Baumkronen [...] sowie MB 82: Bevor der Marques de Bolibar erschossen wird, läßt er den Blick noch einmal über das Land schweifen: [...] Maulbeer- und Feigenbäume standen im Schnee und streckten ihre kahlen Äste von sich [...]. Perutz greift mit dem Motiv auf eine ikonographische Tradition zurück, die sich seit dem Mittelalter belegen läßt. Grüner und vertrockneter Baum stehen zunächst für den Lebensbaum des Paradieses, der nach dem Sündenfall vertrocknete, dann aber auch für Kirche und Synagoge, für Neues und Altes Testament. Vgl. Werner Habicht, Becketts Baum und Shakespeares Wälder. In: Emblem und Emblematikrezeption. Vergleichende Studien zur Wirkungsgeschichte vom 16. bis 20. Jahrhundert. Hg.v. Sybille Penkert, Darmstadt 1978, S. 593-609; Salvatore Settis, Giorgiones Gewitter. Auftraggeber und verborgenes Sujet eines Bildes in der Renaissance. Berlin 1982, S. 29 und Abb. 10 sowie Luther und die Folgen für die Kunst. Katalog zur Ausstellung der Hamburger Kunsthalle, 11.11.1983 — 8.1.1984. Hg.v. W. Hofmann, München 1983, S. 210-216 und Abb. 84. Die symmetrische Komposition Lucas Cranachs zum Thema Gesetz und Gnade (um 1529) nach einem Entwurf Luthers wird von einem die Bildmitte einnehmenden Baum bestimmt, dessen linke, dem AT zugewandte Seite verdorrt, dessen rechte, dem NT zugewandte Seite dagegen belaubt ist.

6 Zur Metaphorik der spiegelnden Pfütze vgl. z.B. Hans Peter Keller, Der Schierlingsbecher. Gedichte. Düsseldorf 1947, S. 12 f: An eine Pfütze.

7 Kant, KrV, B 75.

8 Lionardo da Vinci, Der Paragone. Der Wettstreit der Künste. Düsseldorf 1947, S. 22f. — Georg Simmel macht bezüglich Leonardos Abendmahl ebenfalls auf die Darstellung verschiedener Momente in einem Bilde aufmerksam: Indem das Abendmahl sich in ganz verschiedenen Augenbliken der realen Zeit ereignet, hat die Gestaltungskraft der Kunst ihre Autonomie auch an der Zeitform des Daseins erwiesen, der gegenüber Machtlosigkeit und Hinnehmen unser unabänderliches Los zu sein schienen. G.Simmel, Das Abendmahl Lionardo da Vincis. In: ders. [1922], S. 55-60, hier S. 60.

9 Vgl. NA 259: Und jede Nacht flog die Seele des Kaisers in die rote Rose und die Seele der Jüdin flog in die Blüte des Rosmarins.

10 In der Judenstadt sieht Rudolf die reale Esther an die Säule eines Portals geschmiegt, ihre großen Augen waren auf ihn gerichtet, ihr Mund war halb geöffnet, die braunen Locken fielen ihr in die Stirne (NA 256).

11 H.-H. Müller hat einige Gedanken, u.a. den der Parallele zwischen Brabanzios Bild und der Komposition des Romans, aus meiner Magisterarbeit, die der vorliegenden Dissertation zugrunde liegt, in das Nachwort zu NA übernommen. Vgl. NA 292 und die editorische Notiz, NA 296.

<http://www.isc.meiji.ac.jp/~mmandel/perutz_3_7.html>