Die Herrschaft der Ökonomie

Leo Perutz: Der schwedische Reiter

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Von Michael Mandelartz

Zuerst erschienen in: Studies in Humanities. Faculty of Arts, Shinshu University [Matsumoto / Japan], No. 27, March 1993, S. 213-220

Es ist ein Wirkungs-Geheimnis dieser Bücher, daß die
Ereignisse, deren Chronik sie sind, nicht nur ihre, mit aller Technik
und Schlauheit einer ausgepichten Erzähler-Begabung gefügte
logische Folgerichtigkeit haben, sondern auch eine überlogische
Kausalität, deren Kette letztes Stück durch Gottes Finger läuft.

Alfred Polgar über Turlupin1

 

Enthusiastische Rezensionen wie die von Alfred Polgar werden den Büchern von Leo Perutz (1882-1957)2 in den 20er Jahren nicht selten zuteil. Tucholsky, Broch, Ossietzky, Kracauer schreiben über seine Romane und Novellen, die quer zu allen Vorstellungen liegen, die man gemeinhin von der Wiener Literatur zwischen den Weltkriegen mitbringt. Die Werke der bekanntesten Wiener Schriftsteller wie etwa Musil, Canetti und Broch sind von einem Krisenbewußtsein bestimmt, das sich in der Form ihrer Werke als Auflösung des erzählerischen Zusammenhalts bemerkbar macht. Perutz setzt dagegen eine an den Realisten des 19. Jahrhunderts geschulte Schreibweise mit straffer Komposition. Seine Bücher sind durchgehend spannend, was wohl Musil zu seiner abschätzigen Bemerkungen über die journalistische Dichtung: Perutz, Höllriegel usw. veranlaßt, die intelligent, neugierig, kleingehackt usw.3 sei. Daß Perutz entgegen dem ersten Anschein den Fragestellungen der Moderne nicht aus dem Wege geht, wird die folgende Interpretation des 1936 erschienenen historischen Romans Der schwedische Reiter zeigen.

Perutz stellt der Erzählung in der Tradition der Rahmennovelle einen Vorbericht voran, der die (fiktive) 'Quellenlage' erläutert. Der Erzähler bezieht sich darin auf eine um die Mitte des 18. Jahrhunderts geschriebene Autobiographie einer Adligen, die auf mehreren Reisen die Bekanntschaft der damaligen Gelehrten- und Künstlerwelt gemacht habe. Besonders eindrucksvoll sei die Partie, in der sie von ihrem Vater erzähle, der nachts bei ihr erschienen sei, obwohl er gleichzeitig im Nordischen Krieg (1700-1721) für Karl XII. gekämpft habe. Der Rahmen stellt damit ein logisches Problem — wie kann der 'schwedische Reiter' zugleich im Nordischen Krieg kämpfen und nachts bei seiner Tochter erscheinen -, das die folgende Erzählung durch die miteinander verflochtenen Schicksale zweier Männer beantwortet.

Ihre beiden Charaktere sind komplementär zueinander entworfen: der eine ist ein idealistischer und verträumter Adliger, der seine Ehre darein setzt, unter dem Schwedenkönig Karl XII. zu kämpfen und deshalb aus dem gegnerischen Kaiserlichen Heer entwichen ist. Er führt als Deserteur ein elendes und von den Dragonern stets bedrohtes Leben. Seiner offensichtlichen Unfähigkeit, das Vagantenleben zu meistern, kontrastieren die großsprecherischen Hinweise auf seine 'Edelmannsehre'. Der andere, ein Dieb, der allen adligen und bürgerlichen Ehrbegriffen skeptisch gegenübersteht, von den Königen sagt, sie seien vom Teufel auf die Erde gesetzt, um den gemeinen Mann zu würgen und zu treten (20)4 und Solidarität allein mit denen übt, die zur großen Elendsbruderschaft (25) gehören, erweist sich in allen praktischen Fragen, v.a. in der Landwirtschaft, als sehr erfahren. Konkrete Lebensbewältigung ohne Rückgriff auf 'Ideen' hier, idealistische Träumerei ohne praktische Erfahrung dort: die beiden Charaktere sind auf Ausschließung und Ergänzung zugleich angelegt. Durch einen zweifachen Identitätstausch — gegen Beginn und gegen Ende des Romans — werden beide Möglichkeiten verwirklicht, die Figuren erfahren im Rollentausch die jeweils andere Seite und enden doch ihrem jeweiligen Stand gemäß: der eine als Soldat an der Seite des Königs, der andere als namenloser Landstreicher. Indem Perutz nicht nur den intellektuellen Horizont der Akteure, sondern die gesamte Welt, in der sie agieren, dem barocken Weltbild entsprechend entwirft, entwickelt sich die Fabel des Romans gemäß einer Ökonomie, nach der himmlische und irdische Dinge ineinandergreifen. Zitiert werden beispielsweise mit dem Motiv des schicksalbestimmenden Talismans (im Roman Arcanum genannt) der bis zur Aufklärung weitverbreitete Aberglaube oder die barocke Vanitas-Thematik mit dem Motiv des homo bulla (der Mensch als Seifenblase), wenn der 'Brabanter' überlegt:

Wenn ich die seltsamen Zufälle meines Lebens überdenk', die verwichenen und die gegenwärtigen, dann wird es mir klar, wie nichtig und vergänglich alle Freude ist. Denn alles vergeht, wie das Licht vergeht, wenn es seine Zeit geleuchtet hat, und wir sind nichts als ein Ball des wandelbaren Glücks, das uns in die Höhe wirft, damit wir umso härter fallen. (188)

Neben dem Arcanum gewinnt ein weiteres, aus der Emblematik bekanntes Motiv kompositorische Bedeutung, das Rad der Fortuna, das mit jedem Umschwung Glück und Unglück neu verteilt. Im Schwedischen Reiter erhält es in den sich drehenden Flügeln einer verlassenen Windmühle Gestalt, in der die Hauptfiguren zweimal ihre Identität tauschen.

Am eindringlichsten stellt sich die Verquickung von 'himmlischer' und 'irdischer' Ökonomie — d.h. moralischer und finanzieller Schuld — in dem Stiftsgut des Bischofs dar, einem Berg- und Stahlwerk, in dem der Dieb zu Beginn des Romans sein Unterkommen sucht. Der Bischof wird als Leuteschinder gefürchtet, auf seinem Gut herrscht eine brutale Ausbeutung, von der keiner anders erlöst [wird], als durch den barmherzigen Tod (175). Man nennt ihn den 'Ambassadeur des Teufels', das nach frühkapitalistischen Prinzipien betriebene Bergwerk die 'Hölle des Bischofs'. Der in des Bischofs Diensten stehende Müller dagegen offeriert die Arbeit für den Bischof als 'gutes Leben' (37 u. ö.), das v.a. Sicherheit und mit dem Prinzip des absoluten Gehorsams die Möglichkeit biete, Entscheidungen auszuweichen. Mit seiner Stahlproduktion bedient das Stiftsgut die gegnerischen Kriegsparteien, denn der schwedische Karl und der Moskowiterzar, die brauchen beide viel grobes und leichtes Geschütz (175). Indem es für den Krieg außerhalb produziert, erscheint es selbst, wie wiederum der Müller betont, als Hort des Friedens: Überall ist Krieg, Mord, Brand und Pestilenz, aber in dem Herrn Bischof seinem Land ist Frieden. (77) Der mit einer eigenen Gerichtsbarkeit ausgestattete Bischof bietet dermaßen den Verfolgten und Ausgestoßenen nicht nur eine Insel des Friedens als letzte Zuflucht (26) aus den 'verwirrten Zeiten' (32), die brutale Ausbeutung der wie Sklaven gehaltenen Arbeiter ermöglicht ihm außerdem, als Mäzen die Künste zu fördern. Wie kommunizierende Röhren stehen Kunst und Unterdrückung in einem direkten Zusammenhang, indem sie sich gegenseitig bedingen:

Es heißt, berichtete der Zimmermann, daß Seine fürstliche Gnaden, der Herr Bischof, in seiner fränkischen Residenz sich einen neuen Lustgarten anlegen will mit Bassins und Kaskaden, Felsgrotten, Wasserkünsten, chinesischen Pavillons und mit einer Orangerie. Das kostet Geld, aber die bischöfliche Hofkammer hat keines. Darum hat man auf das Stiftsgut einen neuen Vogt geschickt, der hat den Leuten die Ration gekürzt, sie bekommen kein Schmalz mehr und auf die Hand alle Tage nur ein halbes Pfund Brot, müssen aber werken wie zuvor. (174)

Die illusionslose Reflexion auf den Zusammenhang von Kunst und Ökonomie kennzeichnet nicht nur den Schwedischen Reiter.5 Die Kunst — und zunächst natürlich die Literatur — wird damit in ein Feld von Gegensätzen eingebunden, das sie in sich noch einmal reflektiert und so in der Zusammenfassung aufhebt. Auch im bischöflichen Stiftsgut werden die zitierten Ambivalenzen 'aufgehoben': in der alchemistischen Symbolik der Arbeit am Feuer, die freilich, insofern ihr die Arbeiter zum Opfer fallen, als bloß scheinhafte Verhüllung des kapitalistischen Ausbeutungsprozesses enthüllt wird:

Erst ist die Flamme fast schwarz von Rauch, dann ändert sie die Farb': sie wird dunkelrot und violett, dann blau und endlich weiß. Wenn die Flamme weiß ist und der Stein die schöne Rosenfarb hat, dann ist das Werk gelungen. Der Bren-ner, der muß sein Aug' immer am Guckloch haben. Denn wenn das Feuer um sich greift oder es geht gar aus, dann ist das Werk mißraten und die Aufseher fallen mit Prügeln über den Brenner und seine Gesellen her. Im Winter aber, wenn bei der Arbeit am glühenden Schlund dem Brenner, dem Schürer, dem Raffer der Schweiß stromweis' über den Leib rinnt und sie treten hinaus in die eiskalte Luft, dann kommt der Tod und mustert seine Leut'. (176)

Den Gegenpol zu dem komplexen Beziehungsgeflecht der 'Hölle des Bischofs' bildet das Landgut der Familie von Krechwitz. Wie der Dieb zur Arbeit im Stiftsgut bestimmt zu sein scheint, so der adlige Christian von Tornefeld zur Heirat mit der Tochter seines inzwischen verstorbenen Paten Christian von Krechwitz, da sich die beiden in Kindertagen schon versprochen hatten. Schon die Doppelung des Vornamens 'Christian' (Ableitung von Christus) bei Tornefeld und dem alten von Krechwitz deutet darauf hin, daß das Landgut symbolisch als Gegenpol zur 'Hölle des Bischofs', nämlich als Himmel, zu lesen ist. Die Tochter heißt Maria Agneta, wobei 'Agneta' im theologischen Kontext als Hinweis auf agnus dei, das Lamm Gottes, verstanden werden muß, zumal sie auch vom Dieb als Lämmchen (63) und mehrfach als 'Engel' bezeichnet wird. Auch ökonomisch steht das Landgut im Gegensatz zum Stiftsgut: wird dort in frühkapitalistischer Manier produziert, so überwiegt hier noch die Naturalwirtschaft, wenn auch beide von der übergreifenden Kriegsökonomie abhängen.

Innerhalb dieser wahrhaft grundlegenden Konstellation von 'Himmel' und 'Hölle' entwickelt sich die Fabel nach einer strengen Ökonomie, die, wie gesagt, finanzielle und moralische Schuld gleichermaßen umfaßt. Der Dieb gelangt mit seinem Begleiter Tornefeld, halb erfroren und verhungert, zu einer verlassenen Mühle, an der sich ihr Schicksal zum ersten Mal entscheidet. Von dem Müller geht die Sage, er habe sich erhängt und müsse nun, als Gespenst, die Mühle noch einmal im Jahr betreiben, um dem Bischof seine Schulden abzutragen. Sie finden den Tisch gedeckt, und der großsprecherische Tornefeld macht sich unverzüglich ans Essen, während der Dieb wußte, daß dieser Tisch nicht für Leute gedeckt war, die keinen Kreuzer in der Tasche hatten (28). Der totgeglaubte Müller erscheint und entpuppt sich als in des Bischofs Diensten stehender Fuhr- und Handelsmann. Mit dem Dieb wird er schnell handelseinig, ihn in die 'Hölle des Bischofs' zu führen. Tornefeld dagegen schlägt die Angebote des Müllers mit der Begründung aus, er wolle für den schwedischen König kämpfen; schließlich fordert der Müller seine Schuld ein: ich werd' ihn nicht auf meinem Buckel ins gute Leben tragen. Und zahl der Herr zuvor, was er verzehrt hat, und damit Gott befohlen! (37)Tornefeld ist damit in die Abhängigkeit des Müllers geraten. Um dessen Forderung erfüllen zu können, bittet er den Dieb, für ihn auf das nahebei gelegene Landgut seines, wie er meint, reichen Paten zu gehen und dort für ihn Geld und eine reiche Ausstattung zu fordern, damit er den Müller bezahlen und in den Krieg ziehen könne. Auf dem Hof findet der Dieb die Verhältnisse jedoch sehr verändert: der Pate ist gestorben, seine Tochter Maria Agneta in die Abhängigkeit ihrer Knechte und eines Wucherers geraten, der sie unter Druck setzt, um ihre Einwilligung zur Heirat zu bekommen, der Hof ist verschuldet und die Felder verwahrlost. Die Dragoner unter der Führung des 'Malefizbarons' haben dort Quartier genommen, und der Dieb gerät in ihre Fänge. Maria Agneta widersetzt sich den Forderungen des Wucherers, um Tornefeld, der dem früheren Heiratsversprechen keine Bedeutung mehr beimißt, die Treue zu halten. Als der Dieb ihr gegenübergestellt wird, sieht er sich in einer Vision, wie er sie in den Armen hält. Das Erlebnis prägt sich ihm ein, er will nun, statt in das Stiftsgut, in die Welt zurück und noch einmal den Kampf mit jenen Mächten aufnehmen, die ihm sein Leben lang feindlich gewesen waren (74). Er beschließt, als Edelmann zurückzukehren, Maria Agneta zu heiraten und den Hof wieder aufzubauen.

Ohne den Auftrag Tornefelds erfüllt zu haben, kehrt der Dieb zur Mühle zurück, entschlossen, Tornefeld dem Müller für die Hölle des Bischofs auszuliefern und an seiner statt Maria Agneta zu heiraten. Dieser Tausch scheint zunächst aufzugehen: Tornefeld hatte das Maria Agneta gegebene Heiratsversprechen gebrochen, statt seiner ist nun der Dieb willens, sie zu heiraten; dieser dagegen bricht das dem Müller gegebene Versprechen, ihm auf das Stiftsgut zu folgen; statt seiner geht nun Tornefeld, der ohnehin schon wegen des unbezahlten Essens in des Müllers Schuld steht. Um seinen Kameraden zur Einwilligung zu zwingen, übertreibt er jedoch nicht nur die Gefahr der Dragoner, die Tornefeld hängen wollten, sondern streitet auch Maria Agnetas Treue ihrem Verlobten gegenüber ab. Er verrät damit Tornefeld — ein Verhalten, das in einer späteren Vision vom Gottesgericht zu dem Urteil führt, daß er soll allein tragen durch sein Leben seiner Sünden Last und sie keinem gestehen und bekennen als der Luft und dem Erdreich (147).
Vor den Dragonern, die er auf seiner Spur glaubt, flüchtet sich Tornefeld in das Stiftsgut. Sein Arcanum — die von seinem Urgroßvater ererbte Bibel Gustav Adolfs, die er dessen spätem Nachfahren, dem Schwedenkönig Karl XII., in die Hände legen wollte — vertraut er nun dem Dieb gegen das Versprechen an, statt seiner in den Krieg zu ziehen und sie dem König zu übergeben.

Im Besitz des glückverheißenden Arcanums nutzt der Dieb die neugewonnene Freiheit, um sich die Voraussetzungen zu schaffen, später als Adliger auftreten und den verschuldeten Gutshof sanieren zu können: ich will mir mein Glück holen, und wär' es mit Ketten ans Firmament geheftet, ich will's mir holen. (105) Sein Glück, der Besitz Maria Agnetas und ihres Gutshofs, ist an finanzielle Voraussetzungen geknüpft, und so schlägt sich der Dieb zunächst zu einer Räuberbande und übernimmt deren Führung, nachdem er sie aus den Fängen des Malefizbarons befreit hat. Um sein metaphorisch als 'Himmel' besetztes 'Glück' zu erobern, wird er — zumindest aus der Perspektive der Gesellschaft — Satan, der ewige Feind Gottes, [der] sich in eigener Person als ihr Hauptmann an ihre [der Räuberbande] Spitze gesetzt hätt' (112): die Bande raubt aus den Kirchen die Meßgeräte, holt sich also tatsächlich das Glück 'vom Firmament'. Sein gegen die Grundfesten der christlichen Gesellschaftsordnung gerichtetes Tun vermag der Dieb dennoch zu rechtfertigen durch einen höchst undogmatischen, umfassenden Gottesbegriff, nach dem das Kirchengut als Eigentum Gottes zugleich Eigentum der Allgemeinheit und damit frei verfügbar sei:

Gib acht und spitz die Ohren, ich will dir ein Ding erzählen, flüsterte der Dieb. Alle Ding', die du auf Erden find'st, sind Gottes. Das Gold und Silber in den Pfaffen ihren Häusern ist Gottes und es bleibt Gottes, auch wenn wir's in unseren Säcken haben. Ich mein', es ist ein gutes Werk, den ruhenden Schatz unter die Leut' zu bringen. (109)

So erscheint der Kirchenraub als legitime Möglichkeit, sich zu bereichern, ohne andere zu schädigen. V.a. in der Auseinandersetzung mit dem Dorfpfarrer einer der beraubten Kirchen entwickelt der Dieb verschiedene theologische Argumente bis hin zur Prädestinationslehre, die dem Pfarrer den Sinn verwirren (115). Mittels dieser ungewöhnlichen, aber in sich durchaus konsistenten 'Gegentheologie' gewinnt der Dieb Distanz zu den gesellschaftlich sanktionierten handlungsleitenden Werten und kann so, nachdem er genügend Geld aus den Kirchen zusammengeraubt hat, schließlich die Standesgrenzen überspringen. Er kehrt unter dem Namen Tornefelds als 'schwedischer Reiter' zu Maria Agneta zurück, saniert den abgewirtschafteten Hof und verlebt sieben glückliche Jahre mit seiner Frau und seiner Tochter Maria Christine, deren spätere Autobiographie im Vorwort des Romans angesprochen wird.

Daß die Vergangenheit den schwedischen Reiter doch noch einholt und er schließlich, nach einem zweiten Identitätswechsel, als 'Namenloser' auf dem Gut des Bischofs endet, verdankt sich der dialektischen Beziehung zwischen den beiden Existenzen als Kirchenräuber und als Gutsherr. Der Kirchenraub scheint zwar nicht unmittelbar das Gewissen des Diebs zu belasten, und seine 'Gegentheologie' wird in der Vision vom Gottesgericht von Gott selbst gerechtfertigt. Dennoch begleitet das Gegenbild zur Erlöserfigur Maria Agneta seine Raubzüge und wird ihm schließlich zum Verhängnis: die Geliebte des Kirchenräubers wird in mehrfacher Hinsicht als Judas apostrophiert. Wie Maria Agneta das Weiß als Farbe der Unschuld, so wird ihr das Rot als Farbe des Blutes in Gestalt ihrer roten Haare6 und dem daran anknüpfenden Namen 'rote Lies' zugeordnet. Agneta wird mehrfach als 'Lamm', sie als 'Geißlein' angesprochen, und schließlich schlüpft sie in die Rolle des Judas, wenn sie, wie der 'Brabanter' den Dieb warnt, zu der anderen Partei überläuft (189), d.h. im Roman wie im in Neuen Testament: zu der Partei derer, die die gesellschaftlich sanktionierten Vorstellungen von Recht durchsetzen: Judas verrät Jesus gegen dreißig Silberlinge bei den Hohenpriestern, die 'rote Lies' den ehemaligen Dieb und Kirchenräuber gegen die ausgesetzte Belohnung beim Malefizbaron als dem Vertreter der Obrigkeit.

Vom 'Brabanter' gewarnt, verläßt der schwedische Reiter seine Frau unter dem Vorwand, in die Armee Karls XII. abberufen worden zu sein, sucht aber tatsächlich noch einmal die rote Lies auf, um sie zu beseitigen. Mit einem umgedrehten Brandeisen in Form eines 'L' brennt sie ihm aber den Galgen auf die Stirn, das Zeichen der Ausgestoßenen. Damit ist seine Existenz als 'schwedischer Reiter' beendet und die Rückkehr auf seinen Hof unmöglich geworden.

Der Dieb steht wieder am Ausgangspunkt: wie zu Beginn des Romans hat er nur die Möglichkeit, sich in der 'Hölle des Bischofs' zu verdingen, dem Sammelbecken aller Verworfenen. Auf dem Wege dorthin trifft er in der Mühle Christian Tornefeld, der nach neun Jahren harter Arbeit entlassen wurde und noch immer unter Karl XII. kämpfen will. So erhält Tornefeld von dem Dieb Pferd, Waffen und Kleider sowie das Arcanum, das er nun selbst 'in des Königs Hände' legen will. Der Dieb übergibt sich dem Müller und einer trostlosen Sklavenexistenz im Stiftsgut, während auf dem Gutshof die Nachrichten über den Aufstieg des (wahren) Christian Tornefeld im schwedischen Heer eintreffen.

Der Dieb unternimmt noch einen letzten Versuch, sein Glück auf sicheren Grund zu bauen. Nach mehreren nächtlichen Fluchten, die ihn zu seiner Tochter führen, entschließt er sich, seiner Frau die Wahrheit zu gestehen — in der Hoffnung, sie werde ihn trotz seines Elends annehmen. Der Erzähler kommentiert diesen letzten Fluchtversuch: Das durfte nicht geschehen. Es war ihm nicht verstattet. Der Himmel ließ es nicht zu (237). Der Namenlose stirbt nach einem Sturz von der Felswand.

Betrachten wir den Stellenwert dieser apodiktischen Feststellung des Erzählers innerhalb der Fabel, so zeigt sich der Absturz als Konsequenz des Gottesgerichtes, das den Dieb dazu verurteilte, daß er soll allein tragen durch sein Leben seiner Sünden Last (147). Der Versuch, Maria Agneta über sein Leben aufzuklären, muß daher scheitern. Das Urteil seinerseits resultierte aus dem 'Verrat' des Diebes an Christian Tornefeld, den er in die 'Hölle des Bischofs' schickte, um unter seinem Namen Maria Agneta zu heiraten. Der Verrat aber war die einzige Möglichkeit, sein Glück gegen die sichere Aussicht auf eine Sklavenexistenz auf dem Stiftsgut zu ertrotzen. Man sieht: die Ausbeutung durch den Bischof und der Tod als namenloser Landstreicher sind ihm 'schicksalhaft', durch den 'Himmel', so oder so bestimmt: hält er seinem Freund die Treue, so geht er den geraden Weg, verrät er ihn, so geht er über den Umweg eines begrenzten, auf Lüge, Schein und moralisches Fehlverhalten nur unsicher gegründeten Glücks in die 'Hölle des Bischofs'. Eine Feststellung des Kirchenräubers erhält in diesem Kontext einen neuen, die Gesamtanlage des Romans erläuternden Sinn:

So wenig, wie du einen Rock machen kannst ohne Elle und Scher' und ein Haus nicht bauen kannst ohne Maurer und Zimmerleut', so kannst du auch zu guten Tagen nicht kommen ohne jegliche Sünd'. (109)

Der Optimismus etwa der Aufklärung, daß moralisches Verhalten sich auszahle, wird hier in sein Gegenteil umgekehrt. Damit zitiert Perutz zwar den barocken Topos von der 'verkehrten Welt', es handelt sich aber zugleich wohl auch um die Überzeugung des Autors, die nicht nur in der Anlage dieses Romans Ausdruck findet.7 In der Tat geht der Weltentwurf, der in den Romanen von Leo Perutz gestaltet wird, über den tradierten Topos weit hinaus: ruft die barocke Literatur zu christlichem Lebenswandel auf, der sich zwar nicht hier, aber im Jenseits bezahlt mache, so liegt die Pointe bei Perutz gerade darin, daß erst die Revolte gegen das von Gott verhängte 'Schicksal' bzw. gegen die Einrichtung der Welt insgesamt die Möglichkeit eröffnet, sich innerhalb des im übrigen allumfassenden Elends einen begrenzten Bereich des Glücks zu erobern. Gegen die nach unerbittlichen Gesetzen der Ökonomie ablaufende Geschichte können sich Liebe, Gnade, Menschlichkeit nur temporär und nur auf dem Umweg über Lüge und Schein behaupten. Damit aber gehören sie auch in das Gebiet der Kunst, die im Medium des Scheins das Glück gegen die gnadenlose Wahrheit der Geschichte rettet.

 

Anmerkungen

1 Alfred Polgar: Turlupin. In: Die Weltbühne 20 (1924), S. 506-508. Zit.n.: Leo Perutz 1882-1957. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek Frankfurt am Main. Hrsg. von Hans-Harald Müller u.a. Wien, Darmstadt (Zsolnay) 1989, S. 158-162, hier 161.

2 Zur Biographie vgl. Hans-Harald Müller: Leo Perutz — eine biographische Skizze. In: Exil, Bd. VI (1986), S. 5-17 sowie ders.: Leo Perutz. München (Beck) 1992.

3 Robert Musil: Tagebücher. Heft 19. Zit.n.: Leo Perutz 1882-1957 (Anm. 1), S. 134.

4 Die Seitenangaben beziehen sich auf: Leo Perutz: Der schwedische Reiter. Roman. Hrsg. und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller. Wien, Darmstadt (Zsolnay) 1990.

5 Vgl. etwa zu Nachts unter der steinernen Brücke (1953) meine Arbeit: Poetik und Historik. Christliche und jüdische Geschichtstheologie in den historischen Romanen von Leo Perutz. Tübingen (Niemeyer) 1992, S. 104-122.

6 Rote Haare bezeichnen nicht nur in mehreren Werken von Leo Perutz, sondern in der christlichen Ikonographie im allgemeinen den Verräter Judas. Vgl. etwa Hiltgart L. Keller: Reclams Lexikon der Heiligen und der biblischen Gestalten. Stuttgart (Reclam) 1984, Art. 'Judas Ischarioth'.

7 Vgl. zu Nachts unter der steinernen Brücke: Poetik und Historik (Anm. 5), S. 163-172 und zu Der Marques de Bolibar ebd., S. 184-194.

<http://www.isc.meiji.ac.jp/~mmandel/perutz_reiter.html>