Der Textanfang als kosmologischer Entwurf

Die Motive des Musenanrufs und des Waldes

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Von Michael Mandelartz

Erschienen in: Euphorion 87, 1993, S. 420-437 [PDF]

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. Die Musen bei Homer: Darstellung der Beziehung zwischen Göttern und Menschen
  3. Der Wald bei Dante: Ablösung des Kosmos vom Urgrund
  4. Der Wald bei Wieland: Reminiszenz und halbierter Ursprung
  5. Der Wald bei Tieck: Basis der produktiven Natur
  6. Der Wald bei Stifter: entrücktes Wesen des Kosmos
  7. Der Wald bei Eichendorff: Analogon der Geschichte
  8. Schluß
  9. Anmerkungen

I Einleitung

Daß die Einheit eines erzählerischen oder dramatischen Textes nicht nur in der durchgehenden Handlung, in seiner Fabel oder, Aristotelisch gesagt, im Mythos verankert ist, sondern mindestens ebensosehr von den vielfachen Querverweisen motivischer oder metaphorischer Art getragen wird, dürfte einleuchtend sein. So sind es gerade die Wiederholungen, Verkehrungen und Verschiebungen von Motiven, die die Teile eines Dramas, eines Romans, einer Erzählung entgegen der einsinnigen Richtung von Spiel-, Lese- und Erzählzeit miteinander verknüpfen und in 'wiederholten Spiegelungen' des Anfangs im Ende, des Endes im Anfang usf. eine Konfiguration1 entstehen lassen, die aus dem Fluß des Erzählens allererst einen Text im etymologischen Sinne, als Gewebe, Geflecht, Gefüge macht. In den Wahlverwandtschaften hat Goethe den Aufbau des Ganzen durch das Ineinander der Teile im Bild des 'roten Fadens' bezeichnet, den man aus den Tauen der englischen Flotte nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen.2

Dennoch kommt dem Anfang eines Textes besondere Bedeutung zu. Gerade wenn der Text als Konfiguration ein 'Ganzes' ausmacht, das sich mithin nach seiner artistischen Seite von der empirischen Umwelt unterscheidet, indem es selbst eine 'Welt' bildet, übernimmt der Anfang die Funktion einer Grenze, an der die empirische und die artistisch organisierte Welt aufeinandertreffen. Zur Erhellung der erzähltechnischen Probleme, Möglichkeiten und Lösungsstrategien, die sich daraus ergeben, hat v.a. Norbert Miller beigetragen.3 Seine Untersuchungen betreffen insbesondere die verschiedenen Verfahren, den Leser von außen an die Welt des Romans heranzuführen. Ebenso interessant wäre aber die Analyse von Textanfängen nach der anderen Seite hin, ihr Verhältnis zur inneren Organisation des Werkes. Fassen wir den Text als Welt auf, so wiederholt sich in seinem Beginn die Kosmogonie als Entwurf der Welt, die aus ihr hervorgeht. Im Anfang spiegelt sich so der Aufbau des Ganzen.

Eine Untersuchung der Motivik des Anfangs könnte wechselseitig die verschiedenen Motive und die Struktur der Texte aufklären. Die ersteren, insofern sich im Vergleich sowohl der unterschiedlichen Verwendungsweise eines einzigen wie auch verschiedener Motive an exponierter Stelle ihre inneren Möglichkeiten aufschließen; die letzteren insofern, als die mikrologische Untersuchung des Textbeginns Licht auf das Ganze werfen kann.

Im folgenden werden daher zwei Motive auf ihre Verwendungsweise am Textbeginn hin untersucht: der Musenanruf am Beispiel Homers und der Wald bei Dante, Wieland, Tieck, Stifter und Eichendorff.

II Die Musen bei Homer: Darstellung der Beziehung zwischen Göttern und Menschen

Die Funktion der Musen am Beginn der Homerischen Epen hat schon Volker Klotz als Entsprechung zur Kosmogonie gedeutet. Als eigengesetzliche Welt4 unterhält das Epos Analogien zur Schöpfung, deren mythischer Beginn sich denn auch im Werk wiederholt:

Übermenschliches und Außerzeitliches war Bedingung des Weltanfangs: die Götter. Übermenschliches und Außerzeitliches setzt denn auch Homer in folgerichtiger Entsprechung als Bedingung an seinen Anfang: die Muse. Damit legt er den ersten Akt der epischen Schöpfung in berufenere Hände und fängt so den heiklen Abstoß der fiktiven von der empirischen Wirklichkeit auf. [...] Die Epogonie wird als Entsprechung zur Kosmogonie verstanden, die Muse als numinoser Geburtshelfer einer gedichteten Welt.5

Klotz deutet damit Ilias und Odyssee als Darstellungen der menschlichen Welt, die lediglich zu Beginn von der mittels der Muse angerufenen Welt der Götter als ihrer Bedingung abgehoben wird. Als 'numinoser Geburtshelfer' gehört die Muse demnach einer Ordnung an, die das Epos in der Folge verläßt. Der mythische Hintergrund, vor dem die Homerischen Epen entstanden und der Text selbst verbieten uns aber die Annahme einer solch strikten Trennung. Die Götter, ja auch die Musen treten als Akteure innerhalb von Ilias und Odyssee auf und bestimmen den Gang der Handlung nicht unwesentlich. Welche Funktion hat dann aber die Muse zu Beginn der Dichtung? — Georg Pichts eingehende Erörterung des Komplexes Apollon-Musen6 bietet einen günstigen Ausgangspunkt zur Rekonstruktion der Funktion der Musen innerhalb des griechischen Mythos.

Eigenartigerweise hat sich um die Musen kein Kult gebildet, wie ihn die übrigen griechischen Götter besaßen. Ihre Sonderstellung im Gefüge der griechischen Götterwelt erklärt Picht unter Heranziehung des Apollon-Hymnos und anderer Zeugnisse durch die besondere Form ihrer Verehrung. Sie verbreitete sich von Delos aus, nach dem Mythos die Geburtsinsel Apollons, über ganz Griechenland. Der dortige Apollon-Tempel gab regelmäßig den Rahmen für Wettkämpfe und Feste mit Gesang und Tanz ab, an denen neben den Bewohnern Delos' alle Griechen teilnehmen konnten. Die delischen Mädchen besangen als Repräsentantinnen der Apollon begleitenden Musen nicht nur Hymnen auf diesen, Leto und Artemis, sondern auch Lieder zum Gedenken der Männer und der Frauen der Vorzeit7, also Heldenlieder, aus denen sich die Epen entwickelten. Denn die Sänger waren dem delischen Kult in der Weise verpflichtet, daß sie den Ruhm Apollons und der ihn begleitenden Musen über ganz Griechenland zu verbreiten hatten:

Oh Mädchen, welcher Mann unter den Sängern erfreut euch am meisten, / Wenn er hierherkommt, und wer bringt euch das höchste Ergötzen? / Dann geben ihm alle zumal in eurem ganzen Kreise die Antwort: / Ein blinder Mann, er wohnt aber auf der Felseninsel Chios. / Dessen Gesänge werden alle in der Nachwelt den Preis davontragen. / Ich [der Sänger] aber will euren Ruhm verbreiten, soweit ich über die Erde / In der Menschen wohlbesiedelte Stätte schweife, / Sie aber werden mir glauben, denn es ist ja auch wahr / Ich werde aber nie aufhören, den fernhintreffenden Apollon zu preisen, ihn mit dem silbernen Bogen, den geboren hat die schöngelockte Leto.8

Es findet sich also kein im religionswissenschaftlichen Sinne akzeptabler Kult der Musen, weil die Dichtung selbst dieser Kult ist. Den Inhalt des Gesangs der Musen bzw. der Dichtung bildet, wie eine andere Stelle desselben Hymnus bezeugt, die Gesamtheit von Göttern und Menschen:

Die Musen zumal, sich abwechselnd mit schöner Stimme / Preisen der Götter unsterbliche Gaben und der Menschen / Dulden, mit dem sie unter der Herrschaft der unsterblichen Götter / Leben ohne Einsicht und ohne Ausweg, und sie vermögen nicht / Zu finden ein Heilmittel gegen den Tod oder eine Abwehr des Alters.9

Den Musen bzw. der Dichtung obliegt die Darstellung der Gesamtheit der Götter und ihres Verhältnisses zu den 'duldenden' Menschen, und zwar in einer Form, in der das Göttliche ihnen erträglich ist. Die 'Heiterkeit' der griechischen Götter resultiert dann nicht aus ihrem eigenen Wesen,10 sondern aus der Form der Darstellung, unter der sie in der Dichtung erscheinen.

Der Musenanruf zu Beginn der Homerischen Epen gewinnt vor diesem Hintergrund an Gewicht und Gehalt. Er dient nicht lediglich dem 'Abstoß' der fiktiven von der empirischen Welt, er enthält vielmehr das 'Programm' der Darstellung des gesamten Kosmos, insbesondere der Abhängigkeit der Menschen von den Göttern, im Lichte des Gesangs. Die ersten Zeilen der Ilias enthalten denn auch die wesentlichen Elemente der Darstellung wie des Dargestellten:

Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, / Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte / Und viele tapfere Seelen der Heldensöhne zum Hades / Sendete, aber sie selbst zum Raub den Hunden hinlegte / Und den Vögeln umher; so ward Zeus' Wille vollendet: / Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten / Atreus' Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus. // Wer hat jene der Götter empört zu feindlichem Hader? / Letos Sohn und des Zeus [Apollon]. Denn der, dem Könige zürnend, / Sandte verderbliche Seuche durchs Heer; und es sanken die Völker.11

Der Musenanruf des Eingangs gibt die Form der Darstellung an: Gesang, d.h. Verklärung der in den folgenden Zeilen angedeuteten Geschehnisse. Deren Dimensionen gibt der Dichter mit 'Hades' und 'Zeus' Wille' an; sie erstrecken sich vom Tartarus bis zum Olymp. Das einseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen Menschen und Göttern wird darin angedeutet, daß sich im menschlichen Leiden der Wille Zeus' vollendet. Der Doppelcharakter der Dichtung als verklärende Darstellung eines Verhältnisses, das anders gar nicht begriffen werden kann, offenbart sich in der suggestiven Frage nach dem Urheber des Haders: Apollon, der Musenführer, dem sich die Dichtung in der ersten Zeile indirekt verpflichtet, ist ebenso der Grund der dargestellten grausamen Ereignisse, indem er die Pest sendet. Die Doppelnatur Apollons als Gott der Sühne und als Musenführer — Bogen und Leier — scheint also zu Beginn der Dichtung durch und ermöglicht damit zugleich einen Durchblick auf den Doppelcharakter der Dichtung als verhüllende Darstellung der Götter und des menschlichen Leidens.

Die Ilias stellt damit eigentlich nicht den Beginn der Welt an den Anfang, sondern einen Aufriß des Ineinanders von Göttern und Menschen, das die Welt des Epos ausmacht. Dies liegt wohl an der ungeschichtlichen Denkweise des griechischen Mythos. Den Musen kommt die Funktion eines Mediums zu, in dem die 'an sich' unbegreiflichen Götter von der unter Alter und Tod leidenden Menschheit allererst erfahren werden können.

Die Erstarrung des Homerischen Musenanrufs zur bloßen Eingangsfloskel hat Volker Klotz nachgezeichnet.12 Wir gehen zum Motiv des Waldes über, das über diese ungeschichtliche, primär 'vertikale' Darstellung des kosmischen Zusammenhangs auch die Möglichkeit bietet, die Historizität des Menschen in den Entwurf mit einzubeziehen.

III Der Wald bei Dante: Ablösung des Kosmos vom Urgrund

Die Wanderung Dantes durch Inferno, Purgatorio und Paradiso an der Hand Virgils und Beatrices, die ihm die Ordnung des Jenseits erläutern, setzt damit ein, daß er die Orientierung verliert. Vor der Darstellung des Jenseits wird die diesseitige Ordnung außer Kraft gesetzt:

Ich fand mich, grad in unseres Lebens Mitte, / In einem finstern Wald zurück, verschlagen, / Weil ich vom rechten Pfad gelenkt die Schritte. / Ha! wie er ausgesehn ist hart zu sagen, / Der wüste Wald mit wildverwachsnen Strecken, / Daß in Gedanken sich erneut mein Zagen. / So herb ists, herber kann der Tod nicht schmecken. / Doch um das Heile, das ich dort gefunden, / Zu melden, muß ich anderes erst entdecken. / Wie ich hineinkam, kann ich nicht bekunden, / So tief war ich zur Zeit vom Schlaf benommen, / Als meinem Blick der wahre Weg entschwunden. / Doch nun an eines Hügels Fuß gekommen, / Wo dieses Tal zu seinem Ende gleitet, / Das mir mit Bangen hielt das Herz beklommen, / Blickt ich empor und sah schon hingebreitet / Auf Bergesschultern den Planeten prangen, / Der uns auf jedem Wege richtig leitet.13

Das Motiv der Verirrung im Walde hat Dante wohl dem französischen Ritterroman entnommen.14 Durch die Entgegensetzung zur folgenden Jenseitswanderung gibt Dante jedoch dem Motiv, das in den französischen Vorlagen bloß episodischen Charakter hat, einen anderen Stellenwert, der mit dem kosmologischen Weltbild des Spätmittelalters zusammenhängt.

Dem Wald kommen im Mittelalter, wie Marianne Stauffer zeigt, zwei eng zusammenhängende Bedeutungen zu. Besonders das Motiv des Verirrens verweist auf das Verirrtsein des Menschen in irdischer Sündhaftigkeit15, dem sich Dante mit Hilfe Virgils und Beatrices entziehen kann. Neben die theologische tritt die philosophische Deutung als 'erste Materie': 'Wald' (im Original selva) geht etymologisch auf lat. silva, 'Wald, Park, unverarbeiteter Stoff' zurück, die Übersetzung des griechischen hyle, 'Holz, Wald, Bauholz, Stoff, Material', bei Aristoteles der Gegenbegriff zu eidos bzw. morphe, 'Gestalt'. In der Bedeutung der formlosen Materie vor Beginn der Schöpfung geht silva in die mittelalterliche Kosmologie ein, so etwa in De universitate mundi (1145-1153) von Bernhard Silvestris, ein Werk, das Dante als Gemeingut des Mittelalters16 kannte und das den Bau der Comedia beeinflußte. Zu Beginn der naturphilosophischen Abhandlung wird uns der Zustand der Materie (silva; daher Bernhards Beiname Silvestris) geschildert: das formlose Chaos, das sich nach harmonischer Anordnung sehnt17. Bernhard versteht silva im Zusammenhang seiner kosmologischen Spekulation als Chaos, als Materie, der er allerdings mit Formlosigkeit und Unordnung ähnliche Attribute zuordnet wie Dante dem Wald: finster, wüst, wildverwachsen. Auch Alanus ab Insulis gibt in seinen distinctiones dictionem theologicalium neben anderen die Bedeutung 'erste Materie':

Dicitur primordialis materia, quae apud Graecos dicitur yle, latine silva, quam etiam Plato silvam vocat; quia, sicut silva materiam praebet aedificiis, sic primordialis materia corporibus universis.18

Metaphorisch oder, in mittelalterlichem Ausdruck, allegorisch gelesen, entspricht dem doppelten Bedeutungsgehalt von silva in den Eingangszeilen der Göttlichen Komödie die doppelte Funktion des Waldes, zum einen auf Dantes anfängliches Verstricktsein in der sündhaften Welt zu weisen, zum andern aber einen Durchblick auf das Chaos vor der Neuschöpfung der Welt im architektonischen Aufbau von Inferno, Purgatorio und Paradiso zu erlauben.

IV Der Wald bei Wieland: Reminiszenz und halbierter Ursprung

In der neueren deutschen Prosaliteratur findet sich, soweit ich sehe, vor der Romantik der Wald als Eingangsmotiv mit systematischer Bedeutung nur einmal, in Wielands Agathon. Wieland übernimmt das Motiv direkt von Dante, der ihm durch seinen Mentor Bodmer in der Züricher Zeit bekannt geworden sein dürfte. Bodmer rühmt Dante als originales Genie19 und führt die Ablehnung der Göttlichen Komödie durch die Kunstrichter unserer artigen Welt20 — es dürfte Gottsched gemeint sein — einerseits auf ihren verwickelten Grundriß, andererseits darauf zurück, daß die Kritiker ihre Begriffe zum Maßstabe aller Denkensarten und aller Charakter der Völker und Zeiten21 nähmen. Der beschränkten rationalistischen Poetik seines Gegners Gottsched hält er den umfassenden Plan der Göttlichen Komödie entgegen:

Er [Dante] hatte einen Grundriß nöthig diese grosse Verschiedenheit der Materien in eine gewisse Verbindung zu bringen [...]; seine Absicht begriff alles, was in der Natur wahr, schön, und gut ist. Alle diese Dinge in der verschiedensten Schattierung zu zeigen, dünkte ihn eine phantasievolle Reise durch die Hölle, das Fegfeuer, und den Himmel, ganz bequem.22

Wieland lernt Dante also als einen Autor kennen, der über den zeitlichen Abstand hinweg in einem sehr weiten Sinne doch ein ähnliches Ziel verfolgte: die Synthese von Ideal und Wirklichkeit. Werden in Dantes statischem Weltbild physischer und metaphysischer Kosmos zusammengeschlossen, so kann Agathon am Ende seines verschlungenen Bildungsganges schließlich Ideal und Wirklichkeit verbinden.23

Der Beginn des Agathon lautet:

Die Sonne neigte sich zum Untergang, als Agathon, der sich in einem unwegsamen Walde verirrt hatte, abgemattet von der vergeblichen Bemühung einen Ausgang zu finden, an dem Fuß eines Berges anlangte, welchen er noch zu ersteigen wünschte, in Hoffnung von dem Gipfel desselben irgend einen bewohnten Ort zu entdecken, wo er die Nacht zubringen könnte. Er schleppte sich mit Mühe durch einen Fußweg hinauf, den er zwischen den Gesträuchen gewahr ward; allein da er ungefähr die Mitte des Berges erreicht hatte, fühlte er sich so entkräftet, daß er den Mut verlor, den Gipfel erreichen zu können, der sich immer weiter von ihm zu entfernen schien, je mehr er ihm näher kam. Er warf sich also ganz atemlos unter einen Baum hin, der eine kleine Terrasse umschattete, und beschloß die einbrechende Nacht daselbst zuzubringen.
Wenn sich jemals ein Mensch in Umständen befand, die man unglücklich nennen kann, so war es dieser Jüngling, in der Lage, worin unsre Bekanntschaft mit ihm sich anfängt. [...] Eine Öffnung des Waldes zwischen zwei Bergen zeigte ihm — die untergehende Sonne. Es brauchte nichts mehr als diesen Anblick, um das Gefühl seiner widrigen Umstände zu unterbrechen.24

Die Parallelen zu den Eingangszeilen der Göttlichen Komödie sind unübersehbar: unwegsamer Wald / finstrer, wüster Wald mit wildverwachsnen Strecken; am Fuß eines Berges angekommen / an eines Hügels Fuß gekommen; unglücklichste Umstände / so herb ist's, herber kann der Tod nicht schmecken; die Sonne zwischen zwei Bergen / auf Bergesschultern prangt der wegweisende Planet (die Sonne). Während Agathon so entkräftet ist, daß er den Weg zum Gipfel abbricht, wird Dante durch die Wölfin am Aufstieg gehindert. Sogar Dantes Zeitangabe grad in unseres Lebens Mitte trifft auf den Helden des Wielandschen Romans in etwa zu: Die Vorgeschichte des ersten Buches, Agathons Jugend, sein Aufstieg in Athen und die anschließende Verbannung werden erst im 7. und 8. Buch erzählt. Agathon hat also zu Beginn des Romans Kindheit und Jugend schon hinter sich.

Diese Übereinstimmung bringt aber auch die wesentliche Differenz zwischen dem architektonisch aufgebauten mittelalterlichen Werk und dem Bildungsroman zutage: der Wanderer durch Inferno, Läuterungsberg und Paradies wird zwar von Virgil und Beatrice belehrt, er erfährt aber keine Wandlung seiner Person. Vor dem Eintritt ins Jenseits werden mit dem Irrgang im Wald die Orientierungen des Diesseits aufgehoben. Dante steht am Beginn der Welt, die sich dann kontinuierlich vor ihm aufbaut. Agathons Entwicklung dagegen verläuft in Brüchen, die ihn zuletzt zu der im Gespräch mit Archytas dargestellten Pflichtethik führen. Die Flucht aus dem Delphischen Tempel, die Verbannung aus Athen, die erneute Flucht aus Smyrna und das Scheitern seiner Reformversuche in Syrakus desillusionieren den 'Schwärmer' Agathon, so daß er schließlich die Wirklichkeit als Aufgabenfeld im Sinne der Aufklärung akzeptiert. Das Waldmotiv am Romaneingang stellt also nicht, wie bei Dante, den Anfang überhaupt dar, weder im kosmologischen noch im psychologischen Sinne, sondern lediglich eine 'Talsohle' (am Fuß eines Berges) in der kurvenreichen Entwicklung des Helden, von der aus er erneut — zum Günstling des Hippias in Smyrna — aufsteigt. Der Waldeingang weist also in Wielands Agathon nicht wie bei Dante auf die Struktur des ganzen Werkes voraus — er bleibt bloße Reminiszenz, wie auch die Anspielungen auf den höfischen Barockroman.25

V Der Wald bei Tieck: Basis der produktiven Natur

Es wurde gesagt, das Motiv des Waldes erreiche bei Tieck die höchste Stufe seiner stofflichen Entfaltungsmöglichkeit, eine (wenn auch nicht mehr reale, sondern gedachte) eigene Welt im Gegensatz zur wirklichen zu bedeuten26. Daran ist soviel richtig, daß bei Tieck der Wald als poetische Gegenwelt zur ökonomisch bestimmten Bürgerwelt erscheint. An Realitätsgehalt aber verliert diese durch ihre Rationalität, was jene durch ihren poetischen Gehalt gewinnt.

Unter Tiecks Märchen finden sich gleich zwei, die mit dem Waldmotiv einsetzen: Der Runenberg (1804) und Die Elfen (1811). Zu Beginn des Runenberg ruft sich der Jäger Christian, im Gebirgswald bei seinem Vogelherde sitzend, die idyllische Umgebung seiner Jugend zurück.

Ein junger Jäger saß im innersten Gebirge nachdenkend bei einem Vogelherde, indem das Rauschen der Gewässer und des Waldes in der Einsamkeit tönte. Er bedachte sein Schicksal, wie er so jung sei, und Vater und Mutter, die wohlbekannte Heimat, und alle Befreundeten seines Dorfes verlassen hatte, um eine fremde Umgebung zu suchen, um sich aus dem Kreise der wiederkehrenden Gewöhnlichkeit zu entfernen, und er blickte mit einer Art von Verwunderung auf, daß er sich nun in diesem Tale, in dieser Beschäftigung wiederfand.27

Der Wald erscheint hier zusammen mit den Bergbächen als Charakteristikum des Gebirges, dessen Steinwelten28 neben der dörflichen Welt der Ebene den Hauptschauplatz der Novelle ausmachen. Obwohl der Wald also zunächst bloß als Attribut des Gebirges erscheint, können wir den Runenberg als Beispiel in unsere Sammlung von Waldeingängen aufnehmen, weil die Motive 'Wald' und 'Gebirge' eine feste Verbindung eingehen, der die Wiesen, Gärten und Blumen der Ebene gegenübertreten.

Christian ist der Wanderer zwischen diesen beiden Welten der 'Einsamkeit' von Wald und Gebirge und der bürgerlichen (bzw. genauer: ackerbauenden, die hier aber wohl mit der bürgerlichen gleichgesetzt wird) Sozietät. Je nach Perspektive erscheint ihm die eine oder andere als 'Fremde' bzw. 'Heimat'.29 Der 'fremde Mann' und die Dorfbewohner sind dagegen eindeutig dem Gebirge bzw. der Ebene zugeordnet.

Die Dorfbewohner und der Fremde vertreten zwei konträre Naturauffassungen, deren Konfrontation in Christian das eigentliche Thema des Märchens bildet. Die Ebene ist reizend und anlockend30 mit ihren Feldern und Gärten, zwischen denen das Dorf mit Dorfplatz und Kirche liegt. Die Natur zeigt sich dort von ihrer anmutigen Seite, sie bringt den Bauern Frucht und bei Fleiß Wohlstand. Die Einbettung der Menschen in den jährlichen Kreislauf der pflanzlichen Natur mit Werden und Vergehen versucht der Vater seinem Sohn Christian durch ein Lied zu verdeutlichen:

Sieh die zarten Blüten keimen, / Wie sie aus sich selbst erwachen, / Und wie Kinder aus den Träumen / Dir entgegen lieblich lachen. [...] An den Küssen zu verschmachten, / Zu vergehn in Lieb und Wehmut; / Also stehn, die eben lachten, / Bald verwelkt in stiller Demut. // Das ist ihre höchste Freude, / Im Geliebten sich verzehren, / Sich im Tode zu verklären, / Zu vergehn in süßem Leide. [...] Liebe kommt zum Menschenherzen, / Regt die goldnen Saitenspiele, / Und die Seele spricht: ich fühle / Was das Schönste sei, wonach ich ziele, / Wehmut, Sehnsucht und der Liebe Schmerzen.31

Diesem ruhigen Kreis der wiederkehrenden Gewöhnlichkeit32, in den der Tod mittels der christlichen Religion integriert wird, stehen das Gebirge und der Wald feindlich gegenüber. Der Vater spricht von verwilderten Steine[n] und zerrissenen Klippen mit ihren schroffen Gestalten33. Dem Fremden dagegen zeigt sich die anorganische Natur als das Wunderbare. Er wohnt in einem Schacht bei den Erzen und die Berggewässer erzählen [ihm] Wunderdinge in der Nacht34. Auch Christian erlebt die Gesteinswelt als die 'eigentliche' Natur. In genauer Umkehrung sagt er dem Vater, wie verhaßt ihm die Pflanzen seien:

Nein, sagte der Sohn, ich erinnere mich ganz deutlich, daß mir eine Pflanze zuerst das Unglück der ganzen Erde bekannt gemacht hat, seitdem verstehe ich erst die Seufzer und Klagen, die allenthalben in der ganzen Natur vernehmbar sind, wenn man nur darauf hören will; in den Pflanzen, Kräutern, Blumen und Bäumen regt und bewegt sich schmerzhaft nur eine große Wunde, sie sind der Leichnam vormaliger herrlicher Steinwelten, sie bieten unserm Auge die schrecklichste Verwesung dar. [...] Darum sind alle grünen Gewächse so erzürnt auf mich, und stehn mir nach dem Leben; sie wollen jene geliebte Figur in meinem Herzen auslöschen, und in jedem Frühling mit ihrer verzerrten Leichenmiene meine Seele gewinnen. Unerlaubt und tückisch ist es, wie sie dich, alter Mann, hintergangen haben, denn von deiner Seele haben sie gänzlich Besitz genommen. Frage nur die Steine, du wirst staunen, wenn du sie reden hörst.35

Christians exzentrische, das Verhältnis von Organischem und Anorganischem umkehrende Einstellung zur Natur beruht auf den Naturphilosophien Gotthilf Heinrich Schuberts und Schellings. Schellings Identitätsphilosophie hebt die Trennung von belebter und unbelebter Natur zugunsten eines durchgängigen Zusammenhangs auf, der von der anorganischen Materie bis zur Erscheinung des Geistes reicht. Von den niedersten Stufen an sind polare Erscheinungen derart aufeinander bezogen, daß sie im Kampf ein Ganzes produzieren (so z.B. der Magnet). Das Produkt tritt auf höherer Stufe in einen erneuten Gegensatz, der zu einer höher organisierten Ganzheit führt, so daß sich eine Hierarchie innerhalb des Gesamtzusammenhanges der Natur ergibt. Das Leben bedient sich der Produkte der anorganischen Natur als Faktoren im Kampf der Gegensätze, der auf dieser Stufe aber nicht zum Stillstand kommt. Daher werden die Produkte der organischen Natur selbst produktiv, d.h. sie wechseln ihre Gestalt und unterliegen dem Wechsel von Werden und Vergehen. Auf diese Weise kann freilich nur ein Zustand herauskommen [...], der der Natur gleichsam abgezwungen ist36. Das Leben stellt also nach Schelling gleichsam einen Spezialfall, wenn auch einen hoch organisierten, der produktiven Natur dar, der die anorganische Natur als Rohmaterial für seine Bildungen benutzt. Unter diesem Gesichtspunkt bilden die Pflanzen allerdings eine große Wunde als Leichnam vormaliger herrlicher Steinwelten. Insofern der unbelebten Natur zwar ursprünglich das Prädikat 'lebendig' bzw. 'produktiv' zukommt,37 im Unterschied zur lebendigen aber nicht der Wechsel von Werden und Vergehen, bietet letztere tatsächlich unserm Auge die schrecklichste Verwesung dar.

Der Haß der Bürger, insbesondere von Christians Vater, auf die verwilderten Steine entstammt also einem Verdrängungsprozeß, der die anorganischen Voraussetzungen der Kultur unterschlägt.38 Die Relation zwischen Gebirge und Ebene ist daher nicht symmetrisch, sondern eine der Voraussetzung und der Abhängigkeit: das Gestein ist ursprünglich, das Leben (und der Geist als weitere Steigerung) abgeleitet. Sie bilden zwar dennoch insgesamt einen Zusammenhang der Natur, der aber der bürgerlichen Gesellschaft verdeckt bleibt, weil sie auf der Ausbeutung der anorganischen Natur beruht. Die Aufdeckung dieses Zusammenhanges würde die ökonomischen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft zugleich zerstören. Christian muß ihr daher als Wahnsinniger erscheinen.39

Der Wald wird im Runenberg mit dem Gebirge identifiziert. Christian stellt sich, bevor er seine Heimat verläßt, hohe Berge, Klüfte und Tannenwälder vor40, und zuletzt verschwindet er wieder im Walde. Vor allem aber spricht die Identität des Fremden mit dem 'Waldweib' und mit der weiblichen Gestalt, die Christian im Runenberg als Verkörperung des Anorganischen erscheint, dafür, daß Gebirge und Wald hier mehr oder weniger synonym gebraucht werden. Wir werden damit wieder auf silva bzw. hyle verwiesen, auf die Materie als Bedeutung des Waldes. So gelesen, sind der Wald und die 'Steinwelt' des Gebirges tatsächlich identisch, allerdings erhält die Materie auch jenen Aspekt des Produktiven, des ursprünglich Lebendigen, den Schelling — und Tieck — ihr zusprechen.

VI Der Wald bei Stifter: entrücktes Wesen des Kosmos

Auf ganz ähnliche Weise wie Tieck setzt Stifter zu Beginn von Der Hochwald (1841) Gebirge und Ebene einander gegenüber. Aus der breiten, über mehrere Seiten sich erstreckenden Landschaftsbeschreibung der Exposition zitiere ich zunächst nur den Anfang.

An der Mitternachtseite des Ländchens Österreich zieht ein Wald an die dreißig Meilen lang seinen Dämmerstreifen westwärts, beginnend an den Quellen des Flusses Thaia, und fortstrebend bis zu jenem Grenzknoten, wo das böhmische Land mit Österreich und Baiern zusammenstößt. Dort, wie oft die Nadeln bei Kristallbildungen, schoß ein Gewimmel mächtiger Joche und Rücken gegen einander, und schob einen derben Gebirgsstock empor, der nun von drei Landen weithin sein Waldesblau zeigte und ihnen allerseits wogiges Hügelland und strömende Bäche absendete. Er beugt, wie seinesgleichen öfter, den Lauf der Bergeslinie ab, und sie geht dann mitternachtwärts viele Tagereisen weiter.

Der Ort dieser Waldesschwenkung nun, vergleichbar einer abgeschiednen Meeresbucht, ist es, in dessen Revieren sich das begab, was wir uns vorgenommen zu erzählen. Vorerst wollen wir es kurz versuchen, die zwei Punkte jener düsterprächtigen Waldesbogen dem geneigten Leser vor die Augen zu führen, wo die Personen dieser Geschichte lebten und handelten, ehe wir zu ihnen selber geleiten.41

Der Einführung der handelnden Personen geht, wie der Erzähler selbst bemerkt, die Landschaftsschilderung voraus. Die Natur stellt deutlicher noch als bei Tieck die Bedingung alles Handelns dar. Der erste Abschnitt läßt aber auch die zwei deutlich unterschiedenen Naturbereiche erkennen, die schon bei Tieck der Natur als solcher und der Natur, insofern sie von Menschen verwertet wird, zugeordnet waren: das Gebirge und die Ebene bzw. im Hochwald das Tal. Die zwei Punkte, die der Erzähler erwähnt, beziehen sich denn auch auf diesen Gegensatz. Der erste bezeichnet einen See, der auf zwei Drittel der Höhe des 'Gebirgsstocks' liegt. Den hinaufführenden Weg versieht der Erzähler mit Attributen, die denen ähneln, die Christians Vater dem Gebirge verleiht: es ist eine wilde Lagerung zerrissener Gründe, aus nichts bestehend als tief schwarzer Erde, dem dunklen Totenbette tausendjähriger Vegetation42; auf der schwarzen Erde liegen Kugeln von Granit wie bleiche Schädel43, gelegentlich sieht man das weiße Gerippe eines gestürzten Baumes44: die Natur erscheint wild und tot. Dieser Bereich bildet jedoch nur den Übergang bzw. das Grenzgebiet zu dem einsamen Bergsee, dem Herzschlag des Waldes45, der zwischen einem dichten Fichtenbande, dunkel und ernst46, und einem Felsentheater liegt, das lotrecht auf[steigt], wie eine graue Mauer47. Dem Felsen vorgelagert ist eine natürliche, wie ein halber Mond [...] aus dem See und der Felsenwand48 herausgeschnittene Waldwiese. In Tiecks Erzählung erscheint Christian im Zentrum des Gebirges, dem schimmernden Saal des Runenbergs, eine weibliche Gestalt, die ihm mit der Steintafel Deutungsmöglichkeiten an die Hand gibt.49 Die Natur bleibt also, dem hierarchisch aufgebauten naturphilosophischen Programm Schellings entsprechend, auf den Menschen bezogen. Die Natur Stifters dagegen bleibt dem Menschen, auch in ihrem Zentrum, verschlossen: Keine Spur von Menschenhand, jungfräuliches Schweigen.50 Auch die Metapher vom Felsentheater bezieht nur scheinbar die menschliche Sphäre in die Natur ein, denn das Vorbild des antiken Theaters mit halbkreisförmigem Tanzplatz (Waldwiese), Skene (Felsen), Zuschauerrängen (See) und dahinter ansteigendem Hang (Fichtenband), innerhalb derer sich die Tragödie mit dem Höhepunkt der Katharsis vollzieht, wird durch das reine Naturtheater ersetzt: die Natur stellt Theater, Schauspieler und Publikum in einem dar.

Im Mittelpunkt der Erzählung steht dennoch die Verwandlung des 'Felsentheaters' in eine Bühne mit menschlichen Akteuren. Auf ihr — genauer: auf der Waldwiese — tragiert das Personal der Erzählung, um anschließend wieder in der Natur zu versinken.

Die periphere Stellung des Menschen im Gesamtzusammenhang der Natur expliziert der zweite von Stifter in der Exposition angesprochene 'Punkt':

Lasset uns nun zu dem andern [Punkt] übergehen. Es ist auch ein Wasser, aber ein freundliches, nämlich das leuchtende Band der Moldau, wie es sich darstellt von einem Höhepunkt desselben Waldzuges angesehen, aber etwa zehn Wegestunden weiter gegen Sonnenaufgang. Durch die duftblauen Waldrücken noch glänzender, liegt es geklemmt in den Talwindungen, weithin sichtbar, erst ein Lichtfaden, dann ein flatternd Band, und endlich ein breiter Silbergürtel, um die Wölbung dunkler Waldesbusen geschlungen — dann, bevor sie neuerdings schwarze Tannen- und Föhrenwurzeln netzt, quillt sie auf Augenblicke in ein lichtes Tal hervor, das wie ein zärtlich Auge aufgeschlagen ist in dem ringsum trauernden Waldesdunkel. — Das Tal trägt dem wandernden Waldwasser gastliche Felder entgegen, und grüne Wiesen, und auf einer derselben, wie auf einem Sammetkissen, einen kleinen Ort mit dem schönen Namen Friedberg. — Von da, nach kurzem Glanze, schießt das Wellensilber wieder in die Schatten erst des Jesuiterwaldes, dann des Kienberges, und wird endlich durch die Schlucht der Teufelsmauer verschlungen.51

Das Moldautal mit seinen gastlichen Feldern erinnert wieder an die Dorfidylle des Runenberg. Wird aber dort der menschliche Bezirk mit der offenen Ebene dem Gebirge entgegengesetzt, so wird er hier räumlich wie zeitlich durch das umgebende Gebirge hart begrenzt. Die Moldau erscheint nur auf Augenblicke [...] in dem ringsum trauernden Waldesdunkel, sie liegt geklemmt zwischen den Bergen, um, nachdem sie die Idylle durchzogen hat, von der Schlucht der Teufelsmauer verschlungen zu werden. Im Fließen der Moldau ist wohl die Zeitabhängigkeit des Menschen, die Geschichtlichkeit der Kultur, mitgemeint. Im Gesamtzusammenhang der Natur mit ihrem Zentrum in dem 'unbeweglichen'52, sich stets gleich bleibenden Bergsee, erscheint sie vernachlässigenswert. Auf die Ordnung des Kosmos nimmt sie keinen Einfluß.

Gewissermaßen auf halber Strecke zwischen Tal und Bergsee liegt die Ruine des Schlosses Wittinghausen, das zweihundert Jahre vor der Zeit des Erzählers, also im Dreißigjährigen Krieg, zunächst den Schauplatz stellt. Von ihm aus blickt man auf Friedberg herab, es erlaubt aber auch — durch das Fernrohr — den Blick auf die Felswand, die den Bergsee nach einer Seite hin abschließt. Die Tragödie, die sich, von hier ausgehend, am Bergsee fortspinnt und schließlich auf das Schloß zurückkehrend ihr Ende findet, bestätigt das vermittels der Analyse der Landschaftsdarstellung gewonnene Bild: die Anstrengungen des Vaters, seine Töchter vor den Verheerungen des Krieges, der Wittinghaus bedroht, zu schützen, indem er sie gemeinsam mit einem naturerfahrenen Jäger in einem auf der an dem Bergsee gelegenen Waldwiese erbauten Holzhaus leben läßt, müssen notwendig scheitern, weil er die Liebe, die seine Tochter und den Sohn Gustav Adolfs — seines Kriegsgegners — verbindet, nicht als Wirkung der Natur erkennt und anerkennt.53 Sein moralisch, d.h. kulturell begründeter Zorn gegenüber dem schwedischen Ritter hat die Zerstörung der Burg durch die Schweden zur Folge. Eben in dieser Zerstörung aber ergreift der natürliche Zusammenhang nun auch die Burg: ihre Schilderung durch den Erzähler in der Eingangspassage — 200 Jahre nach den geschilderten Ereignissen — weist eine Reihe von Parallelen zu der Felswand am See auf,54 die zeigen, daß sie nun ebenso wie diese dem Einzugsbereich der Kultur des Moldautales entzogen ist.

Der Bereich menschlichen Handelns wird bei Stifter wie die Moldau von der Natur als einer Gewalt, die gegenüber Leid und Tod vollständig indifferent bleibt, verschlungen. Damit werden Kultur und Geschichte als ein Teil der als kosmischer Zusammenhang geschilderten Natur dargestellt, von dem sie sich bloß subjektiv, aus der menschlichen Perspektive, abheben. Das Scheitern des Versuchs, dem Gewaltzusammenhang durch Einordnung in die Natur — Leben am See — zu entgehen zeigt, daß der Naturzusammenhang nicht teleologisch auf den Menschen bezogen und damit letztlich, wie Hans Joachim Piechotta sagt, für ihn unverbindlich bleibt:

Die Pointe der (gewaltsamen) Zitation letztinstanzlicher Mythologeme bei Stifter liegt in der faktischen Unverbindlichkeit der allem Endlichen zugleich absolut nahen wie absolut entrückten mythischen Substanz — eine Pointe der Indifferenz also [...].55

Der Wald am Eingang der Stifterschen Erzählung steht also diesmal nicht wie bei Dante oder Tieck für die Materie, aus der die — sehr verschieden gefaßte — Welt erst entsteht, sondern schon für diese Welt selbst und ihre Ordnung, die dem menschlichen Sinnverstehen allerdings unendlich entrückt ist.56

VII Der Wald bei Eichendorff: Analogon der Geschichte

Aus der kaum überraschenden reichen Auswahl von Waldeingängen bei Eichendorff57 nehmen wir als Beispiel die Revolutionsnovelle Das Schloss Dürande (1837). Wir haben die später entstandene Erzählung Stifters vorgezogen, weil ihre die Geschichte umfangende 'absolute Landschaft'58 zwischen der das Historische nur als abstrakt 'Geschichtliches' einbeziehenden Landschaft Tiecks und der den historischen Konflikt schon andeutenden Landschaft Eichendorffs angesiedelt zu sein scheint. Die Novelle, offensichtlich Eichendorffs Auseinandersetzung mit Kleist,59 zitiert nicht nur mit Renalds unbedingter Forderung nach Recht den Kohlhaas und mit Gabrieles unbedingter Liebe das Käthchen, sondern die Aufforderung des letzten Satzes: Du aber hüte dich, das wilde Tier zu wecken in der Brust, daß es nicht plötzlich ausbricht und dich selbst zerreißt — übernimmt der Autor fast wörtlich als Quintessenz seiner Ausführungen zu Kleist in die Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands (1857). Von diesen die Novelle durchziehenden dämonische[n] Gewalten60 in Kleist'scher Nachfolge scheint nun in der Landschaftsschilderung zu Beginn kaum die Rede zu sein:

In der schönen Provence liegt ein Tal zwischen waldigen Bergen, die Trümmer des alten Schlosses Dürande sehen über die Wipfel in die Einsamkeit herein; von der andern Seite erblickt man weit unten die Türme der Stadt Marseille; wenn die Luft von Mittag kommt, klingen bei klarem Wetter die Glocken herüber, sonst hört man nichts von der Welt. In diesem Tale stand ehemals ein kleines Jägerhaus, man sah's vor Blüten kaum, so überwaldet war's und weinumrankt bis an das Hirschgeweih über dem Eingang: in stillen Nächten, wenn der Mond hell schien, kam das Wild oft weidend bis auf die Waldeswiese vor der Tür. Dort wohnte dazumal der Jäger Renald, im Dienst des alten Grafen Dürande, mit seiner jungen Schwester Gabriele ganz allein, denn Vater und Mutter waren lange gestorben.61

Der erste Satz dieses Textstückes bis zum Semikolon zieht die Hauptelemente der breiten Exposition Stifters aufs Engste zusammen: waldige Berge, Tal, Schloßruine. In dieser Kürze liegt aber auch schon, daß die im Hochwald je für sich auftretenden Elemente eine Landschaft bilden, die leicht als Einheit in der Anschauung — und im Text — zusammengefaßt werden kann. Die in der Schloßruine dargestellte vergangene Geschichte wird nicht an den Rand der Natur gedrängt; vielmehr überblickt man gerade von ihr aus die 'Einsamkeit'. Bei Stifter dagegen ist die Perspektive gerade umgekehrt: die wieder Natur gewordene Burg gibt den Blick auf die Siedlungen des Moldautals frei.62 Auch Eichendorf bezieht nach dem Semikolon die Ferne mit ein. Sie gehört jedoch kaum noch in den zunächst genannten Zusammenhang von Berg, Tal, Schloß: man erblickt Marseille weit unten, nur manchmal klingen die Glocken herüber, sonst hört man nichts von der Welt. In dem Maße, in dem die tragenden Elemente der Landschaft zusammenrücken, verschwindet die Welt außerhalb aus dem Blickfeld, oder, anders gesagt: die 'kleine Welt' verschließt sich vor der 'großen Welt'. Dasselbe Verhältnis läßt sich nun innerhalb ihrer beobachten. Renalds Haus liegt versteckt im Wald, so daß die Kommunikation zwischen Schloß und Jägerhaus, oben und unten, Adel und drittem Stand63 gestört wird. Das Hirschgeweih über dem Eingang gewinnt so, ähnlich wie Kreuz, Weihwasserbecken und andere abwehrende Zeichen an dieser Stelle — apotropäische Funktion, die Weinranken deuten als Attribut des Bacchus auf die kommenden, aller Vernunft baren 'dämonischen' Ereignisse, das vor der Tür äsende Wild auf den 'wilden' Renald. Im Zentrum der Einsamkeit aber steht die symbiotische, fast inzestuöse Beziehung Renalds zu seiner Schwester, die eigentliche Ursache der Abschließung nach außen.

Wir haben die Landschaftsschilderung symbolisch gelesen, d.h. so, als ob ihr Aufbau auf den Text als Ganzen schon vorauswiese und nicht bloß realistisch zu lesen sei. In diesem allgemeinen Sinne haben sich auch die Eingangspassagen der Texte von Tieck und Stifter als symbolisch erwiesen. Während aber bei diesen die analysierten Naturschilderungen auf ihre Naturauffassung verwiesen — bei Tieck auf den an Schelling anknüpfenden stufigen, den Menschen einschließenden Naturkosmos, bei Stifter auf die den Menschen als periphere Erscheinung 'verschlingende' Natur — bildet die Passage aus Das Schloss Dürande schon den historischen Konflikt der französischen Revolution bzw. das darein verwobene Schicksal Renalds, Gabrieles und des jungen Grafen Dürande ab. Die menschlichen Konflikte werden aber nicht nur, wie Oskar Seidlin gezeigt hat, auf die Natur projiziert; Natur und Kultur — bzw. Geschichte — werden viel eher durch das Prinzip der Analogie, die in der scholastischen Philosophie eines Thomas von Aquin das Kettenglied zwischen Göttlichem, Menschlichem und Natürlichem liefert64, verknüpft. Diese Verknüpfung ist umso eher möglich, als die Natur die Basis für alle Kultur und Geschichte abgibt.

Für die oben der Landschaftsbeschreibung entnommene Abschließung der Stände voneinander — und zwar aller drei Stände — gibt es im weiteren Verlauf der Novelle ein sehr einleuchtendes Symbol: man schließt die Fensterläden, um sich vor der andringenden unverstandenen Welt zu schützen. Ohne daß die solcherart Eingeschlossenen es bemerken, dringt sie aber durch die Ritzen in die Räume und wird so zur dämonischen, unbeherrschbaren Gewalt. Für den Klerus stehen die Nonnen, die zur Weinlese ausnahmsweise den Gartensaal des Gratialgutes öffnen: Die Priorin aber ließ die Kinder hereinkommen, die scheu und neugierig in dem Saal umherschauten, in den sie das ganze Jahr über nur manchmal heimlich durch die Ritzen der verschlossenen Fensterladen geguckt hatten65. Das Motiv wirkt hier noch nicht bedrohlich, schaut doch mit den Kindern nur die 'Unschuld' von außen in den geschlossenen Saal. Die Nonnen werden denn auch nicht direkt in den Aufruhr um Schloß Dürande verwickelt, obschon sie aus ihrem Kloster vertrieben werden. Das Dämonische dagegen dringt mit der Farbe 'Rot', die in der Novelle wie auch das Gewitter ganz deutlich Aufruhr, Revolution und Verwirrung bezeichnet,66 aus der Versammlung des dritten Standes in einer Pariser Vorortwirtschaft: Renald hörte die Stimmen des Fremden [eines Jakobiners] wieder dazwischen, eine wilde Predigt, von der er nur einzelne Worte verstand, manchmal blitzte das Kaminfeuer blutrot durch die Ritzen der schlechtverwahrten Tür67. Ähnlich zwecklos ist der Versuch des alten Grafen als Vertreter des Adels, sich von der Außenwelt abzuschotten: Da hielt der kranke alte Graf um die gewohnte Stunde einsam Tafel im Ahnensaal, die hohen Fenster waren fest verschlossen [...], nur durch die Ritzen der Fensterladen sah man zuweilen das Wetterleuchten68.

Das in Renald verkörperte 'Dämonische', das sich schließlich in der Katastrophe Bahn bricht, nimmt seinen Ausgang von dem stolzen und trotzigen69 Beharren der Stände — insbesondere des Adels und des dritten Standes — auf ihrem angestammten oder angemaßten Recht, ohne auf den Zusammenhalt des Ganzen Rücksicht zu nehmen. In der Natur wie in der Gesellschaft wird sich aber 'das Ganze' auf die eine oder andere Weise wieder herstellen, denn die Welt ist faktisch ein Zusammenhang, der nur um den Preis der Katastrophe, die ihn über den Willen der Beteiligten hinweg wieder einrichtet, geleugnet werden kann. So gesehen besteht das 'Dämonische' in dem 'unterirdischen', nicht gewußten Zusammenhang, der durch die Abschließung verdrängt wurde.70

Die Stände können sich daher nur im Tod versöhnen. Im Erkennen der Liebenden wird die tragische Verwirrung gelöst, aber um den Preis des Todes aller an ihr Beteiligten und der Zerstörung des Schlosses im Feuer. Die Natur nimmt — wie bei Stifter — das Schloß wieder in sich auf, anders als dort aber erlaubt das Geschehene, wie die letzten Zeilen der Novelle zeigen, einen neuen Überblick über die 'Gründe', ein Wort, mit dem rational nicht bestimmbare Tiefen angedeutet werden sollen71, also Aufklärung über das 'Dämonische', dessen Verdrängung in die Katastrophe geführt hatte.

Da tat es gleich darauf einen furchtbaren Blitz und donnernd stürzte das Schloß hinter ihnen zusammen. Dann wurde alles still; wie eine Opferflamme, schlank, mild und prächtig stieg das Feuer zum gestirnten Himmel auf, die Gründe und Wälder ringsumher erleuchtend — den Renald sah man nimmer wieder.

Das sind die Trümmer des alten Schlosses Dürande, die weinumrankt in schönen Frühlingstagen von den waldigen Bergen schauen. — Du aber hüte dich, das wilde Tier zu wecken in der Brust, daß es nicht plötzlich ausbricht und dich selbst zerreißt.72

Indem die Natur nun auch vom Schloß Besitz ergreift wie zuvor schon vom Jägerhaus, wird die Kommunikation im übergreifenden Zusammenhang der Natur wiederhergestellt. Die Bedeutung des Waldes und des Weines, der zu Beginn nur das Jägerhaus, zum Schluß aber dieses und das Schloß gleichermaßen umrankt, hat sich gegenüber der Eingangssituation verschoben: bezeichneten sie dort die Trennung der Stände, so hier deren Versöhnung.

VIII Schluß

Daß die vorgestellten Musen- und Waldeingänge sich jeweils auf den ganzen Text beziehen, ihre Eigenart im Hinblick darauf entfalten und ihn in nuce schon enthalten, kann kaum überraschen, zieht sich doch im Romananfang der unendliche Spielraum der Reflexion auf einen endlichen Gegenstand zusammen73. Die bisher behandelten Texteingänge haben gezeigt, daß selbst ein und dasselbe Motiv wie beispielsweise der Wald sehr verschiedene Möglichkeiten bereitstellt, den unendlichen Spielraum im endlichen Gegenstand darzustellen. Dennoch sind andererseits die Möglichkeiten eines Motivs durch seine Erscheinungsweise als Phänomen74 begrenzt: Im Musenanruf dominiert die vertikale Beziehung zwischen Menschen und Göttern. Das wird durch die Ablösung des inzwischen zur bloßen Floskel erstarrten Musenanrufs durch die Anrufung des Schöpfers im Mittelalter bestätigt.75 Die Erscheinungsweise der Muse als Darstellerin der Vielheit der Götter und der Helden ermöglicht jedoch durch die vertikale Dimension hindurch die epische Entfaltung des gesamten menschlichen und göttlichen Kosmos.

Der Wald, als Phänomen betrachtet,76 zeigt dagegen ganz andere Eigenschaften: die vertikale Dimension der einzelnen Bäume wird durch die horizontale Erstreckung des Waldes aufgehoben, so daß sich insgesamt der Eindruck einer Masse ergibt, deren Undurchdringlichkeit durch das Unterholz betont wird. Der Wald ist unverrückbar, fest an den Boden gebunden und, von außen wie von innen gesehen, dunkel. Zu diesen Merkmalen, die den Wald als Symbol für Materie auszeichnen, kommt die Unordnung des Gestrüpps hinzu, die ihm gewissermaßen eine anarchische Qualität verleiht. Mit dem philosophischen Diskurs über das Wesen der Materie wird die Phänomenologie des Waldes über die Etymologie verbunden, die bis auf das griechische hyle, Aristoteles' Begriff für die Materie, zurückgeht.

Innerhalb unserer Beispielsammlung wird das Motiv des Waldes nur von Dante und — als bloße Reminiszenz, die dem Charakter des Agathon als in Brüchen verlaufendem Entwicklungsroman kaum noch gerecht wird, von Wieland — in diesem Sinne als Symbol der reinen Materie im Gegensatz zur Ordnung bzw. Gestalt verwendet. Die übrigen Beispiele konnotieren den Wald von vorneherein mit dem Gebirge und kontrastieren ihn auf diese Weise der Ebene bzw. dem Tal. Dadurch wird zwar einerseits die Konnotation mit der Materie (als Gestein) hervorgehoben, andererseits aber scheint der Wald durch die Einbindung in die Landschaft seinen Charakter als Symbol für die Totalität des Kosmos vor der Schöpfung einzubüßen. Tatsächlich wird das Symbol, wie die angeführten Texte zeigen, in einen komplexeren Weltentwurf einbezogen, ohne doch seine ursprüngliche Funktion einzubüßen, auf das hypokeimenon, das allem Zugrundeliegende, zu verweisen. Die Einbeziehung des Geschichtlichen in die Weltmodelle der späteren Aufklärung und der Romantik kann als Ursache der Verschiebung des Symbolgehalts benannt werden.

Der Kosmos wird nicht mehr als eine seit der Schöpfung bestehende statische Entität aufgefaßt, der damit das Chaos vor der Schöpfung gegenüberstünde. Der Gedanke der Entwicklung bringt mit sich, daß der Kosmos als organische Einheit aufgefaßt wird, die sich vom Chaotisch-Materiellen bis zum Geist erstreckt. Damit ändert sich aber auch der Charakter der Materie: sie wird selbst als in einem weiteren Sinne 'organisch' aufgefaßt; aus ihr entwickeln sich alle weiteren Strukturen. Der Gebirgswald bei Tieck bringt mit der Engführung von Gestein und Wald diese Verschiebung im Begriff der Materie zum Ausdruck. Auch als Teil des scheinbaren Gegensatzpaares Gebirge — Ebene, deren Einheit die Landschaft ausmachen würde, behält der Wald also seinen ursprünglichen Symbolgehalt, auch insofern, als die Ebene nach Schelling erst durch Erosion des Gebirges entsteht.77

Bei Stifter bildet der Wald zwar ebenso einen Teil der Landschaft, er beherrscht sie aber ganz und gar. Das Moldautal stellt nur einen fast zu vernachlässigenden Aspekt dar, die Moldau selbst wird gar verschluckt. Der Wald symbolisiert also hier den ganzen Kosmos, ohne einem Gegensatz gegenüberzutreten. Dafür gliedert er sich in sich, in See, Felswand, Waldwiese, Fichtenband, um nur die tragenden Elemente zu nennen. Der Gegensatz Kultur — Natur verschwindet zugunsten des gegliederten Kosmos Natur, innerhalb dessen der Mensch nur einen Teil ausmacht, der sich über seine periphere Stellung im Ganzen leicht hinwegtäuscht.

Bei Eichendorff schließlich bezeichnet der Gegensatz Berg — Tal nicht mehr Natur und Kultur. Im Schloss Dürande sind Berg und Tal gleichermaßen bewaldet, und beide werden in Schloß und Jägerhaus von Menschen bewohnt. Die weit weniger schroffen Landschaften Eichendorffs nehmen als Bild der ganzen Natur den Menschen in sich auf, der durch das Band der Analogie vielfach mit ihr verbunden ist. Verschließen sich die Menschen dieser allseitigen Offenheit, so kommt es freilich wie in der Novelle zur Katastrophe.

 

Anmerkungen

1 Ich entnehme den Begriff Paul Ricoeur, Zeit und Erzählung, Bd. I: Zeit und historische Erzählung. München 1988. Ricoeur sieht allerdings schon in der Fabel die Bedingungen für die Neuordnung der Zeit erfüllt.

2 Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe. München 101981, Bd. 6, S. 368.

3 Norbert Miller, Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts. München 1968; ders. (Hrsg.), Romananfänge. Versuch zu einer Poetik des Romans. Berlin 1965.

4 Volker Klotz, Muse und Helios. Über epische Anfangsnöte und -weisen. In: Miller (Hrsg.), Romananfänge, S. 11-36, hier S. 11.

5 Klotz, Muse, S. 11f.

6 Georg Picht, Kunst und Mythos. Stuttgart 31990, S. 532-569.

7 Apollon-Hymnos, 160. Zit.n. Picht, Kunst, S. 560.

8 Apollon-Hymnos, 165-178. Zit.n. Picht, Kunst, S. 562f.

9 Apollon-Hymnos, 189-193. Zit.n. Picht, Kunst, S. 544.

10 Schwer zu ertragen sind die Götter, wenn sie in ihrer unverhüllten Gestalt erscheinen. Ilias 20, 131. Zit.n. Picht, Kunst, S. 531.

11 Ilias, I,1-9 (Übers. Voss).

12 Klotz, Muse, S. 14ff.

13 Dante, Das neue Leben. Die göttliche Komödie. Hg.v. E. Laaths, München o.J., S. 63 (Inferno, I/1-18).

14 Vgl. E.R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern / München 91978, S. 366: Sie [die Commedia] beginnt mit der Verirrung im Walde, einem Motiv des französischen Ritterromans.

15 Marianne Stauffer, Der Wald. Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter. Bern 1959, S. 144f.

16 Curtius, Europäische Literatur, S. 364.

17 Curtius, Europäische Literatur, S. 119.

18 Zitiert nach Stauffer, Wald, S. 143.

19 Johann Jakob Bodmer, Über das dreyfache Gedicht des Dante. In: J.J. Bodmer / J.J. Breitinger, Schriften zur Literatur. Hg.v. Volker Meid, Stuttgart: 1980, S. 283-293, hier S. 287. Der 1763 erschienen Schrift ging der Aufsatz Von dem Werthe des dantischen dreyfachen Gedichtes in den Neuen Critischen Briefen voraus (1749).

20 Bodmer, Dante, S. 283.

21 Ebd.

22 Bodmer, Dante, S. 285.

23 Vgl. dazu den Vorbericht zur ersten Ausgabe von 1766/67: vermöge des Plans [sollte] der Charakter Agathons auf verschiedene Proben gestellt werden [...], durch welche seine Denkart und seine Tugend geläutert, und dasjenige, was darin unecht war, nach und nach von dem reinen Golde abgesondert wurde. Christoph Martin Wieland, Geschichte des Agathon (1799). München 1983, S. 10.

24 Wieland, Agathon, S. 31, 32.

25 Miller, Erzähler, S. 125, führt den verunglückten Beginn des Agathon darauf zurück, daß Wieland sich ausgerechnet dem veralteten Eingangsmodus des hohen Barockromans an[-schließt]. Von allen zur Wahl stehenden, vorgefertigten Köpfen wählt er den engsten und unpassendsten, um ihn seiner Erzählung aufzusetzen. Dabei griff Wieland natürlich nicht auf ein benennbares Vorbild zurück, sondern schloß sich einer anonymen ausgeleierten, aber fast bis in seine Zeit nachwirkenden Tradition an. Wir haben dagegen gezeigt, daß Wieland sich nicht dem Barockroman, sondern Dante anschließt, dessen Eingangsmotiv dem Entwicklungsroman aber nicht besser gerecht wird als die von Miller genannte Tradition.

26 Wolfgang Baumgart, Der Wald in der deutschen Dichtung. Berlin / Leipzig 1936, S. 60.

27 Ludwig Tieck, Werke in vier Bdn., Bd. II: Die Märchen aus dem Phantasus. Dramen. Hg.v. M. Thalmann, München 1964, S. 61.

28 Tieck, Werke II, S. 77.

29 Vgl. Tieck, Werke II, S. 65, 72 und 76.

30 Tieck, Werke II, S. 69.

31 Tieck, Werke II, S. 79.

32 Tieck, Werke II, S. 61.

33 Tieck, Werke II, S. 76.

34 Tieck, Werke II, S. 65f.

35 Tieck, Werke II, S. 77.

36 F.W.J. Schelling, Sämmtliche Werke. Hrsg. v. K.F.A. Schelling, Stutt-gart 1856-1861, I. Abt., Bd. 3, S. 322 (Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, 1799).

37 Und dies ist denn auch das Resultat, auf welches jede ächte Naturwissenschaft führen muß, daß nämlich der Unterschied zwischen organischer und anorganischer Natur nur in der Natur als Objekt sey, und daß die Natur als ursprünglich-produktiv Über beiden schwebe. Schelling, Naturphilosophie, S. 326.

38 Manfred Frank, Steinherz und Goldseele. Ein Symbol im Kontext. In: Das kalte Herz und andere Texte der Romantik. Frankfurt / M. 1978, S. 233-357, resümiert S. 255 verschiedene Stellen der allerdings späteren Philosophie der Mythologie: Indem die Steinwelt jedoch verwitternd zu Grunde ging, bereitete sie den Boden für pflanzliches Wachstum und dessen Kultur.

39 Vgl. Tieck, Werke II, S. 80-82.

40 Tieck, Werke II, S. 64.

41 Adalbert Stifter, Werke. Hg.v Uwe Japp und Hans Joachim Piechotta, Frankfurt / Main 1978, Bd. 1, S. 59.

42 Stifter, Werke 1, S. 60.

43 Ebd.

44 Ebd.

45 Stifter, Werke 1, S. 118.

46 Stifter, Werke 1, S. 60.

47 Ebd.

48 Stifter, Werke 1, S. 94.

49 Vgl. Tieck, Werke II, S. 67f.

50 Stifter, Werke 1, S. 60.

51 Stifter, Werke 1, S. 61f.

52 Vgl. Stifter, Werke 1, S. 61.

53 [...] — es ist schon so Natur, kommentiert dagegen der Jäger die Begegnung der Liebenden. Stifter, Werke 1, S. 123.

54 Vgl. die Merkmale Stifter, Werke 1, S. 60-62: Es heißt, die Burg könne in tausend Jahren nicht zusammenfallen; ihr grauer, viereckiger Turm entspricht der lotrecht[en], graue[n] Mauer der Felswand; diese wird nur geschnitten durch zarte Streifen grünen Mooses, und sparsam bewachsen von Schwarzföhren, die aber von solcher Höhe so klein herabsehen wie Rosmarinkrautlein; ebenso tragen Soller und Fensterreihe des Turmes eine Wildnis schöner Waldkräuter in ihren Simsen; er ist von außen umringt mit vielen Platten, Knollen, Blocken und andern wunderlichen Granitformen, wie man entlang der Felswand in größlicher Verwirrung die alten, ausgebleichten Stämme liegen sieht, in traurigem, weiß leuchtendem Verhack die dunklen Wasser säumend. Rechts treibt die Seewand einen mächtigen Granitgiebel empor.

55 Hans Joachim Piechotta, Ordnung als mythologisches Zitat. Adalbert Stifter und der Mythos. In: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Hrsg. v. Karl Heinz Bohrer, Frankfurt / M. 1983, S. 83-110, hier S. 104.

56 Baumgarts Formulierung, im Hochwald sei eine strenge Scheidung von Wald- und Außenbezirk zu erkennen; vom Boden des Realismus weicht Stifter dabei nicht ab, aber innerhalb dieser Grenzen sucht er ein Sein des Waldes vom Sein der Außensphäre möglichst scharf abzuheben (Baumgart, Wald, S. 111), bleibt demgegenüber ungenau: eine Trennung der Wald- von der Kultursphäre liegt eben nur aus der begrenzten Perspektive vor, die im Verlauf der Erzählung aufgehoben wird.

57 Vgl. Ahnung und Gegenwart; Die Zaüberei im Herbste; Viel Lärmen um Nichts; Die Entführung; Die Glücksritter; Libertas und ihre Freier.

58 Richard Alewyn, Eine Landschaft Eichendorffs. In: Romantikforschung seit 1945. Hg.v. Klaus Peter, Königstein/Ts. 1980, S. 85-102, hier S. 97. — So wertvoll Alewyns grammatische Analyse der Landschaft Eichendorffs hinsichtlich der Raumauffassung sein mag, in unserem Zusammenhang hilft sie nicht weiter. Was uns interessiert, klammert Alewyn aus seiner Analyse aus: Ihre [der Landschaft] Inhalte sind in anderem Zusammenhang nicht bedeutungslos, als Elemente der Landschaft sind sie jedoch ausnahmslos auswechselbar (S. 100). Wir stützen uns daher auf Oskar Seidlins Untersuchung der 'symbolischen Landschaft', nach der sich Landschaft als sichtbare Theologie, als Schlüssel, der die tieferen Perspektiven der sich entfaltenden Geschichte öffnet [...] in Eichendorffs Werk immer wieder findet. O.S., Die symbolische Landschaft. In: ders., Versuche über Eichendorff. Göttingen 1965, S. 32-53, hier S. 34.

59 Und, wie man hinzufügen kann, mit Arnims Novelle Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau (1818).

60 Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Begr.v. W. Kosch und A. Sauer. Hg.v. H. Kunisch, Bd. IX, Regensburg 1970, S. 429: Hüte jeder das wilde Thier in seiner Brust, daß es nicht plötzlich ausbricht und ihn selbst zerreißt! Denn das war Kleist's Unglück und schwergebüßte Schuld, daß er diese, keinem Dichter fremde, dämonische Gewalt nicht bändigen konnte oder wollte, die bald unverhohlen, bald heimlichleise, und dann nur um so grauenvoller, fast durch alle seine Dichtungen geht.

61 Joseph von Eichendorff, Das Schloss Dürande. In: Werke, Bd. II, München 1970, S. 794-831, hier S. 794.

62 Der Punkt, von dem aus man fast so weit, als es hier beschrieben, den Lauf dieser Waldestochter [der Moldau] übersehen kann, ist eine zerfallene Ritterburg, von dem Tale aus wie ein luftblauer Würfel anzusehen, der am obersten Rande eines breiten Waldbandes schwebet. Stifter, Werke 1, S. 62.

63 Zum dritten Stand wurde in Frankreich vor der Revolution die gesamte Nation außer Adel und Klerus gezählt, nicht nur — wie in Deutschland — das Bürgertum. Diese Definition findet sich z.B. in Sieyes' Schrift Was ist der Dritte Stand? von 1789. Renalds Stolz gegenüber dem Adel schreibt sich also von dem Bewußtsein her, dem Tiers Etat zuzugehören. Vgl. z.B. Albert Soboul, Die große Französische Revolution. Darmstadt 1983, S. 16ff.

64 Seidlin, Landschaft, S. 51f.

65 Eichendorff, Werke II, S. 803.

66 Vgl. Helmut Koopmann, Eichendorff, Das Schloss Dürande und die Revolution. In: ZfdPh, Bd. 89, 1970, S. 180-206, bes. 187-189 u.o. sowie Klaus Köhnke, Eichendorffs Schloss Dürande: Wirklichkeits- und Symbolcharakter. In: Aurora, Bd. 34, 1974, S. 7-23, bes. 14f.

67 Eichendorff, Werke II, S. 809.

68 Eichendorff, Werke II, S. 817.

69 Vgl. Eichendorff, Werke II, S. 798, 808, 810, 822. Die Schuld scheint damit innerhalb der Novelle auf Adel und dritten Stand gleichmäßig verteilt. Köhnke, Schloss Dürande, meint dagegen: Im Gegensatz zu Renald ist der junge Graf trotz seines Leichtsinns nach Eichendorffs Urteil unschuldig. Das ist insofern richtig, als der junge Graf und Gabriele durch ihre Liebe — zu spät zwar — die Vereinigung der Stände erst ermöglichen. Die Hybris des Adels wird aber im alten Grafen repräsentiert, dem, so Köhnke S. 13 wohl etwas vorschnell, nach Eichendorffs Urteil vergeben werden kann. Vgl. dagegen Seidlin, Des Lebens wahrhafte Geschichte. In: ders., Versuche, S. 193-237, hier S. 232f: In 'Schloß Dürande' sind die Akzente gleichmäßiger [als in Robert und Guiscard] gesetzt, die Schuld an der Konflagration wird dem Adel nicht weniger zugeschoben als dem Empörer. Starre und Wildheit hüben wie drüben, das Janusgesicht des Hochmuts hier wie dort.

70 Vgl. auch Goethe zum Dämonischen: vergebens, daß der hellere Teil der Menschen sie [in denen das Dämonische hervortritt] als Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch nichts zu überwinden, als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen. Werke, Bd. 10, S. 177 (Dichtung und Wahrheit, 20. Buch).

71 Köhnke, Schloss Dürande, S. 10.

72 Eichendorff, Werke II, S. 831.

73 Norbert Miller, Einleitung. In: Romananfänge, S. 7-10, hier S. 8.

74 Vgl. zu diesem Begriff Picht, Kunst, S. 203ff.

75 Vgl. Klotz, Muse, S. 18ff.

76 Vgl. zu dieser phänomenologischen Beschreibung auch Elias Canetti, Masse und Macht. Hamburg 1960, S. 92f (Kap. 'Massensymbole'). Canetti betont m.E. zu sehr den vertikalen Aspekt.

77 Vgl. oben, Anm. 38.

<http://www.isc.meiji.ac.jp/~mmandel/textanfang.html>