Goethe und Schiller: Ästhetik der Weimarer Klassik

Eine Einführung

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Von Michael Mandelartz

Vortrag, gehalten in der Bischöflichen Akademie Aachen, Januar 1989

Goethe und Schiller als 'klassische Autoren' zu bezeichnen, wie im Titel dieses Vortrags geschehen, ist durchaus nicht selbstverständlich. Ebenso wie ihre Reklamation als 'Nationalautoren' gehört ihre Einreihung unter die Klassiker der Wirkungsgeschichte ihres Werkes, und zwar speziell der deutschen Rezeption an. In England werden Goethe und Schiller unter die Romantiker gezählt, in Frankreich wird nahezu ausschließlich die mehr als hundert Jahre frühere französische Literatur von Corneille (1606-1684) bis Racine (1639-1699) als 'klassisch' bezeichnet.

Die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs 'klassisch', wie er sich geschichtlich ausgebildet hat, scheinen sich in der Tat als Etikett der literarischen Situation in Deutschland um 1800 wenig zu eignen. Das lateinische Wort 'classicus' bedeutet ursprünglich zur höchsten Steuerklasse gehörend, also den finanziell unabhängigen Bürger. Der 'scriptor classicus' bezeichnet dann den steuerpflichtigen, 'erstklassigen' und mustergültigen Schriftsteller. Mit dem Schwerpunkt auf der letzten Bedeutung des meisterhaften und mustergültigen wurde der Begriff in die Neuzeit überliefert, doch so, daß die antiken Autoren als die Klassiker im eigentlichen Sinne, als Vorbilder aller späteren Literatur angesehen wurden. So macht z.B. Vergil, der antike Klassiker par excellence, den Führer durch Dantes Epos 'Die göttliche Komödie' (um 1310), dessen harmonische Proportion und Klassizität Dante damit an das antike Vorbild bindet.

Der Begriff des 'Klassischen' schwankt durch diese Rückbindung an die Antike zwischen stiltypologischer und historischer Bedeutung, d.h. zwischen der Bezeichnung mustergültiger und harmonisch proportionierter Literatur einerseits, und dem Bezug auf die griechische und römische Antike andererseits. Darin liegt das Problem jeder nachantiken Klassik, die sich zwar von den antiken Vorbildern lösen will, um selbst mustergültig werden zu können, zugleich aber an den antiken Autoren gemessen wird.

Goethe selbst hat in seinem Aufsatz 'literarischer Sansculottismus' während der Hochphase der 'Weimarer Klassik' (1795) die Ansicht vertreten, in Deutschland seien die Voraussetzungen nicht gegeben, unter denen klassische Autoren entstehen könnten. Als Bedingungen der Entstehung eines klassischen Nationalautors gibt er an:

Wenn er in der Geschichte seiner Nation große Begebenheiten und ihre Folgen in einer glücklichen und bedeutenden Einheit vorfindet; wenn er in den Gesinnungen seiner Landsleute Größe, in ihren Empfindungen Tiefe und ihren Handlungen Stärke und Konsequenz nicht vermißt; [...] wenn er seine Nation auf einem hohen Grade der Kultur findet, so daß ihm seine eigene Bildung leicht wird; wenn er viele Materialien gesammelt, vollkommene oder unvollkommene Versuche seiner Vorgänger vor sich sieht und so viel äußere und innere Umstände zusammentreffen, daß er kein schweres Lehrgeld zu zahlen braucht, daß er in den besten Jahren seines Lebens ein großes Werk übersehen, zu ordnen und in einem Sinne auszuführen fähig ist.1

Die Einheit in der Ausführung eines poetischen Werkes hängt also nach Goethe durchaus nicht bloß von der Person des Autors ab, sondern ist ebenso durch den äußeren Umstand der kontinuierlichen politischen und kulturellen Entwicklung eines Landes bedingt, denen der Autor das Material zu seinem Werk entnimmt. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen der poetischen Produktion, die Autoren und schließlich das Publikum müssen im dauernden Kontakt eine Kommunikationsgemeinschaft bilden, deren Einheit sich im klassisch-geschlossenen Werk spiegeln kann. So gesehen bietet weder die 'abstrakte' Herrschaftsform des modernen, zentralistischen Staates der Aufklärung, noch das in eine Vielzahl von kleineren und mittleren Staaten mit je eigener Verfassung zerrissene Deutschland die Voraussetzungen zur Ausbildung eines geschlossenen Werkes; ohne Hauptstadt gibt es, wie Goethe sagt, nirgends in Deutschland [einen] Mittelpunkt gesellschaftlicher Lebensbildung, wo sich Schriftsteller zusammenfänden und nach einer Art, in einem Sinne, jeder in seinem Fache, sich ausbilden könnten (ebd.). Zudem treffen die Autoren auf ein großes Publikum ohne Geschmack, das das Schlechte nach dem Guten mit eben demselben Vergnügen verschlingt (ebd.). Ohne den unmittelbaren Kontakt zum Publikum aber isoliert sich die Poesie von den politischen, religiösen und moralischen Zeitfragen und verliert umgekehrt die Fähigkeit, auf das gesellschaftliche Leben einzuwirken.

Goethe hat den Widerstreit zwischen lebendiger Tätigkeit und sozial isolierter Poesie klar gesehen und später in 'Torquato Tasso' (1790, Prosafassung 1780/81) behandelt. Im Gegensatz zu Tasso, der als Dichter an der Machtpolitik seines Fürsten scheitert, entscheidet sich Goethe aber nach der Phase des Sturm und Drang für die praktische Tätigkeit. Herzog Karl August, dessen Einladung nach Weimar er 1775 folgt, schätzt Goethe weniger als Dichter denn als politischen Ratgeber, und Goethe stellt die Dichtung hinter seine Tätigkeit als Mitglied des beratenden 'geheimen Konsiliums', der Kriegs- und der Bergwerkskommission und als Finanzminister bewußt zurück. Von 1775 bis zur Italienischen Reise, also mehr als zehn Jahre, tritt Goethe lediglich mit Gelegenheitsproduktionen für den Weimarer Hof und das Hoftheater als Dichter in Erscheinung. Seine engen Beziehungen zur Hofgesellschaft erlauben Goethe aber eine direkte Einflußnahme auf die gesellschaftlichen Belange im Sinne der 'Erziehung' des Adels zur aufgeklärten, verantwortlichen Wahrung der Interessen aller sozialer Schichten. Im Duodezfürstentum Weimar kann er seine Vorstellung vom 'tätigen Leben' des Individuums innerhalb eines relativ geschlossenen Horizontes — allerdings auf Kosten der poetischen Produktion — realisieren.

Noch zu Beginn der Italienischen Reise schreibt er an Frau von Stein:

Auf dieser Reise, hoff ich, will ich mein Gemüt über die schönen Künste beruhigen, ihr heilig Bild mir recht in die Seele prägen und zum stillen Genuß bewahren. Dann aber mich zu den Handwerkern wenden, und wenn ich zurückkomme, Chymie und Mechanik studieren. Denn die Zeit des Schönen ist vorüber, nur die Not und das strenge Bedürfnis erfordern unsre Tage. (5.10.1786)

Gerade die mit der praktischen Tätigkeit in Weimar begonnene Wendung zu 'den Sachen selbst' aber bereitet die erneute poetische Tätigkeit in Italien vor; an den Werken der Antike und der Renaissance findet Goethe die 'geschlossene Form', die er an der zeitgenössischen Kunst als Produkt von Subjekten, die vom gesellschaftlichen Leben isoliert sind, vermißt. In ihnen verständigte sich, so Goethes Auffassung, die Gesellschaft über sich selbst, sie haben öffentlichen Charakter und gehen dadurch über die bloße Willkür subjektiver Äußerungen hinaus. Über die Arena zu Verona notiert er, sie sei eigentlich [...] recht gemacht, dem Volk mit sich selbst zu imponieren (Tgb.).

Einerseits sieht Goethe in der geschlossenen Form antiker Kunstwerke den Gegensatz zwischen Subjekt und Gesellschaft überwunden, andererseits aber auch den für die neuzeitliche Philosophie kennzeichnenden Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt bzw. zwischen Subjekt und Natur. Das Formgesetz der Darstellung von Naturgegenständen sei in der antiken Kunst nicht durch die Subjektivität des Künstlers gegeben, der den Gegenstand in der Darstellung willkürlich behandelt, einzelne seiner Merkmale hervorhebt, andere unterdrückt, sondern durch die Gesetzmäßigkeit der Natur selbst, die dem Künstler eine Verfahrensweise in der Darstellung vorschreibt, die den Gegenständen selbst gemäß ist. Die Kunst als Produkt menschlicher Tätigkeit steht den Produkten der Natur demnach nicht unverbrüchlich gegenüber, sondern die organischen Formen der Natur finden im Kunstwerk ihre gesteigerte Fortsetzung. Unter dem 6. September 1787 schreibt Goethe in der 'Italienischen Reise':

Diese hohen Kunstwerke sind zugleich als die höchsten Naturwerke von Menschen nach wahren und natürlichen Gesetzen hervorgebracht worden. Alles Willkürliche, Eingebildete fällt zusammen, da ist Notwendigkeit, da ist Gott. (11/395)

Goethe rezipiert die antike Kunst in Italien, als ob der gewaltige zeitliche Abstand zur Antike nicht bestünde. Beim zweiten römischen Aufenthalt spricht er von der Gegenwart des klassischen Bodens, von der Gewißheit, daß hier das Große war, ist und sein wird. Das Problem, von dem ausgehend Goethe in Weimar 'die Poesie dem Leben subordiniert' (17. Mai 1780 an Kestner) hatte, war aber eben dies gewesen, daß die moderne Kunst nicht mehr — wie z.B. die antike Tempelkunst — im unmittelbaren Zusammenhang des gesellschaftlichen und religiösen Lebens steht, sondern als Produkt isolierter Subjekte autonom wird, d.h. für die Wirklichkeit belanglos. Es scheint zunächst so, als ob Goethe in Italien das moderne Prinzip der Subjektivität und damit auch die Errungenschaften der Aufklärung gegen ein unter den Verhältnissen des 18. Jahrhunderts vollkommen unrealistisches Ideal des Einklangs von Natur, Gesellschaft und Kunst eingetauscht habe. Die Überlegungen zur Ästhetik, die er in Italien z.T. gemeinsam mit Karl Philipp Moritz ausgearbeitet und nach der Rückkehr nach Weimar in dem kleinen Aufsatz 'Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil' (Februar 1789) niedergelegt hat, vertreten demgegenüber als höchstes Prinzip der Darstellung eine Vereinigung des antiken Verfahrens, individuelle Gegenstände der Natur darzustellen, ohne das Verfahren der Darstellung eigens zu thematisieren (einfache Nachahmung der Natur), und des neuzeitlichen Verfahrens, die Gegenstände der Natur bloß als Zeichensprache zum Ausdruck des jeweiligen Subjekts zu benutzen (Manier), im Stil, in dessen Darstellung konkreter Gegenstände ein ausgedehntes naturwissenschaftliches Studium der Objekte und ihres Zusammenhanges eingeht. Im Stil drücken sich demnach die dargestellte Natur und das darstellende Subjekt, der konkrete Gegenstand und die allgemeinen Bezüge, die durch das Naturstudium begriffen werden, gleichermaßen aus, und er bezeichnet nach Goethe den höchsten Grad [...], welchen die Kunst je erreicht hat und je erreichen kann. Im Begriff des Stils drückt sich der Anspruch Goethes aus, die antiken Muster nicht bloß 'nachzuahmen', sondern ihnen Werke gegenüberstellen zu können, die ihre Modernität nicht verleugnen und dennoch nicht im Widerspruch zu den klassischen Werken der Antike stehen.

Der Fähigkeit des Künstlers, in die naturgemäße Darstellung bestimmter Objekte zugleich auch allgemeine Bezüge und sich selbst als Subjekt hineinzulegen, dem Stil also liegt nach Goethe nicht bloß das unablässige Naturstudium des Künstlers zugrunde. Das Vermögen des Genies, im Einzelnen das Allgemeine darzustellen, erklärt sich letztlich als Gabe der Natur, die durch das Genie wirkt (Über die bildende Nachahmung des Schönen). Am vollkommenen Kunstwerk hat so zwar auch die Reflexion des Künstlers Anteil, seine Schönheit verdankt sich aber der Intuition als Naturgabe. Das Kunstwerk gilt damit, wie schon zitiert, zugleich als Werk der Natur.

Schiller lebt schon ein Jahr lang in Weimar, als Goethe im Juni 1788 dorthin zurückkehrt. Wie Goethe vor der Italienischen Reise die Poesie zugunsten praktischer Tätigkeit und Naturstudium aufgab, so wendet sich Schiller der Philosophie Kants zu, und zwar zunächst dessen Geschichtsphilosophie, anschließend der Ästhetik. Im Sinne Kants bezeichnet Schiller das moralische Interesse der Gegenwart als den Schlüssel zum Verständnis der Universalgeschichte. Die Fülle verstreuter Ereignisse erhalten als bloßer Stoff des Geschichtsschreibers ihren Sinn, indem er sie auf die Freiheit als den höchsten Zweck der Vernunft bezieht. Die Vernunft wird damit nicht bloß zum Prinzip der Geschichtsschreibung, sondern zum Organisationsprinzip der Geschichte selbst. (Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, Mai 1789)

In Schillers Geschichtsphilosophie der Vernunft liegt auch der Keim seiner ästhetischen Theorie. Während Goethe die Kontinuität zwischen den Produkten der Natur und der Kunst hervorhebt, betont Schiller den Bruch zwischen dem notwendigen Geschehen der Natur und der Selbstbestimmung aus Freiheit als Prinzip der Subjektivität. In dem Traktat Etwas über die erste Menschengesellschaft (1790) vertritt er die These, der Sündenfall sei die glücklichste und größte Begebenheit in der Menschengeschichte, denn sie bedeute des Menschen Abfall von seinem Instinkte2. Das Essen vom Baum der Erkenntnis sei der erste Anfang des moralischen, d.h. selbstbestimmten Daseins. Mit dem Sündenfall kommen zwar die moralischen Übel in die Welt, doch nur, um das moralisch Gute darin möglich zu machen. Im Lauf der Geschichte soll eben die Vernunft, durch die er den Stand der Unschuld verlor, den Menschen befähigen, sich in erneute, nun bewußte Übereinstimmung mit der Natur zu setzen.

Die Ansätze Schillers und Goethes verhalten sich demnach gegenläufig zueinander: zwar sehen beide im gegenwärtigen Weltzustand eine Disproportion zwischen Natur und Vernunft, Goethe aber will sie durch einen Rückgang der Vernunft auf ihre Quellen in der Natur überwinden, Schiller im Gegenteil durch den Primat der Vernunft über die Natur. Der Verlauf der französischen Revolution und insbesondere der Terror seit September 1792 überzeugt Schiller aber von der Unmöglichkeit, die Gesetze der Vernunft unmittelbar in die gesellschaftliche Wirklichkeit zu übersetzen. Das Vermittlungsproblem zwischen der Forderung der Vernunft nach Freiheit und den konkreten geschichtlichen Bedingungen, unter denen sie verwirklicht werden soll, sucht er nun ästhetisch zu lösen:

Wäre das Faktum wahr [...], daß die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen, der Mensch als Selbstzweck respektiert und behandelt, das Gesetz auf den Thron erhoben und wahre Freiheit zur Grundlage des Staatsgebäudes gemacht worden, so wollte ich auf ewig von den Musen Abschied nehmen und dem herrlichsten aller Kunstwerke, der Monarchie der Vernunft, alle meine Tätigkeit widmen. Aber dieses Faktum ist es eben, was ich zu bezweifeln wage.3 (Urfassung der 'ästhetischen Briefe', 13.Juli 1793, Bo 205)

Die gegensätzlichen Ausgangspunkte, von denen her Schiller und Goethe sich erneut der Kunst zuwenden — konkretes Naturstudium und Intuition hier, philosophisch-begriffliches Denken dort, formuliert Schiller im sogenannten 'Geburtstagsbrief' an Goethe vom 23. August 1794, mit dem er den Freundschaftsbund eröffnet. Er charakterisiert Goethe darin als 'griechischen Geist', der das Schöne zwar intuitiv nach objektiven Gesetzen produziere, unter den gegenwärtigen geschichtlichen Bedingungen aber nicht auf eine Wirklichkeit treffe, die seinem Verfahren entgegenkomme. So bleibe Goethe

keine andere Wahl, als entweder selbst zum nordischen Künstler zu werden [d.h. subjektiv-modern zu verfahren], oder Ihrer Imagination das, was ihr die Wirklichkeit vorenthielt, durch Nachhülfe der Denkkraft zu ersetzen und so gleichsam von innen heraus und auf einem rationalen Wege ein Griechenland zu gebären.4

Wenn Goethe vom Einzelnen ausgehend zum Allgemeinen strebe, Schiller aber vom Allgemeinen, d.h. vom vernünftigen Begriff aus das Einzelne darzustellen beabsichtige, so könne es gar nicht fehlen, meint Schiller, daß nicht beide einander auf halbem Wege begegnen werden.

Wie Goethe ist auch Schiller der Meinung, der Anspruch der Poesie, die ganze Wahrheit exemplarisch darzustellen, vertrage sich nicht mit politischem Engagement, das notwendig parteiisch sein müsse, das Ganze also aufgebe. In der Ankündigung der Zeitschrift 'Die Horen' (Dezember 1794) fordert er die Zurückstellung des 'Kampfes politischer Meinungen' zugunsten des 'höheren Interesses', die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen. Seine Zeitschrift soll mitten in diesem politischen Tumult [...] für Musen und Charitinnen einen engen vertraulichen Zirkel schließen, aus welchem alles verbannt sein wird, was mit einem unreinen Parteigeist gestempelt ist5. Die Zusammenarbeit Goethes und Schillers stellt sich so als ästhetische Koalition dar, die vor dem Hintergrund der Französischen Revolution politisches Engagement bewußt ausschaltet. Im Zusammenhang mit dieser grundlegenden Position sind Schillers 'Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen' (Urfassung 1793, Horen 1795) zu verstehen, in denen Schiller der Kunst die Funktion zuspricht, durch die Vermittlung zwischen menschlicher Natur und Vernunft in einem 'Reich des Spiels' die noch unaufgeklärten Mitglieder der Gesellschaft schon unter den politischen Bedingungen des Feudalstaates auf den freiheitlichen Staat der Vernunft vorzubereiten. Exzesse des revolutionären Umbruchs wie in Frankreich seit 1792 sollen durch ästhetische Erziehung vermieden werden. So kommt der Kunst als Vermittlungsinstanz zwischen Natur und Vernunft zwar eine zentrale Funktion zu, aber doch nur während der kritischen Übergangsphase von der alten zur neuen Gesellschaft. Ist die Fähigkeit zur Selbstbestimmung einmal erreicht, hat sie nur noch dekorativen Charakter. In den 1793 zuerst formulierten Briefen bildet die Kunst daher gewissermaßen noch das Vehikel, über das die menschliche Natur der Herrschaft der Vernunft unterworfen werden soll.

In der Begegnung mit Goethe lernt Schiller dagegen, die menschliche Natur nicht bloß als Relikt der 'Tierheit' zu verwerfen, sondern als der Vernunft gleichberechtigte Quelle poetischer Tätigkeit anzuerkennen. In seiner Schrift 'Über naive und sentimentalische Dichtung', die 1795 und 1796 in drei Teilen in den 'Horen' erschien, versucht Schiller die Konsequenzen aus der Begegnung mit Goethe für sein ästhetisches Programm zu ziehen. Schon im 'Geburtstagsbrief' an Goethe hatte er dessen intuitives Verfahren seinem eigenen Weg gegenübergestellt. Nun setzt er erneut bei diesem Gegensatz an und erweitert ihn zu zwei ganz verschiedenen Dichtungsweisen, durch welche das ganze Gebiet der Poesie erschöpft und ausgemessen wird (Bd.2, 554).

Anders als in den früheren Traktaten, die der Vernunft die Priorität über die Natur zusprachen, tritt der Dichter hier als Bewahrer der Natur (ebd.) auf, die also von Beginn an positiv ausgezeichnet wird. Schiller definiert Natur als das freiwillige Dasein, das Bestehen der Dinge durch sich selbst, die Existenz nach eignen und unabänderlichen Gesetzes (540). Bemerkenswert an dieser Definition der Natur ist ihre Übereinstimmung mit dem Endziel der Vernunft, der Selbstbestimmung des Menschen nach Gesetzen der Freiheit. Das Zusammenfallen von Natur und Vernunft in der höchsten Dichtart als Ergebnis des Traktats wird so in der anfänglichen Definition der Natur schon vorweggenommen. Die Idealisierung der Natur als 'in sich selbst ruhender Einheit', als naive Natur, wie sie sich z.B. als kindliche Unschuld zeigt, ist nun selbst keine natürliche Gegebenheit, sondern ein Befund des zivilisierten Menschen, der sich von der Natur schon gelöst hat. Die Wahrnehmung des Naiven setzt den Kontrast zum Sentimentalischen schon voraus. Im Gegensatz zu der unschuldigen und unbewußten Einheit der Natur mit sich selbst ist die Kultur durch die selbstgesetzte Aufgabe der Vernunft geprägt, sich im Lauf der Geschichte zur freien Selbstbestimmung, d.h. zur Übereinstimmung mit sich selbst durchzuarbeiten. Solange dieses Ideal nicht verwirklicht ist — und in der Tat ist es nur annäherungsweise zu erreichen — fühlt die Vernunft ständig den Widerspruch zwischen ihrer de facto unerreichbaren Bestimmung und dem tatsächlichen, durch das Unvermögen zur Selbstbestimmung gekennzeichneten geschichtlichen Zustand. Naives und Sentimentalisches verhalten sich somit gegenläufig zueinander: das Naive stellt in einem beschränkten Bereich ohne Vernunft die vollkommene Übereinstimmung mit sich selbst dar, während das Sentimentalische den vollkommenen Bereich vernünftiger Ideale bloß unvollkommen darstellt. In der Vereinigung des Positiven beider würde sich die Geschichte vollenden.

Wir sind frei, und sie [die Naturgegenstände] sind notwendig; wir wechseln, sie bleiben eins. Aber nur, wenn beides sich miteinander verbindet — wenn der Wille das Gesetz der Notwendigkeit frei befolgt und bei allem Wechsel der Phantasie die Vernunft ihre Regel behauptet, geht das Göttliche oder das Ideal hervor. (541)

Die selbstgenügsamen Gegenstände der Natur dienen der Vernunft als Vergegenwärtigung des ihr aufgegebenen Ideals. Sie halten dem sentimentalischen Betrachter also die Disproportion zwischen seiner unendlichen Aufgabe und seinem tatsächlichen Zustand vor Augen, indem sie genau das, was ihm fehlt, darstellen, nämlich Übereinstimmung mit sich selbst.

Innerhalb dieses geschichtsphilosophischen Schemas tritt die Dichtung auf allen drei Stufen — Natur, Kultur und Ideal — als 'Bewahrerin der Natur' auf. Der naive Dichter ist selbst Natur und ahmt die Natur nach. Da er mit der Wirklichkeit, die er darzustellen beabsichtigt, unmittelbar übereinstimmt, verfährt er nach unbewußten, aber stets objektiven Gesetzen. Die dargestellten Gegenstände selbst bestimmen ihm das Verfahren der Darstellung. Der sentimentalische Dichter dagegen sucht die verlorene Natur, vermag sie aber nicht mehr unmittelbar darzustellen. Die Art der Darstellung wird ihm durch die Ideen der Vernunft vorgeschrieben, so daß er weniger das Wirkliche als das Ideal darstellt.

In der Schillerschen Lyrik äußert sich die sentimentalische Dichtung v.a. in den Formen der Hymne und der Elegie. Die Hymne stellt, etwa in Der Tanz von 1796, das Ideal als vollendet dar, während die Elegie — z.B. die Nänie (Totenklage) — den Verlust der Einheit des Menschen mit sich selbst beklagt. Beide Formen thematisieren Grundverfassungen des Menschlichen und 'das Schöne' in Vergangenheit bzw. Zukunft; die Gegenwart und damit 'das Politische' wird gemäß Schillers Forderung in der Einleitung zu den 'Horen', die politische Welt unter der Fahne der Schönheit wieder zu vereinigen, ausgeklammert.

Der Bruch zwischen Natur und Ideal, der die sentimentalische Dichtung kennzeichnet, führt zu einer Gattungstheorie, die sich auf die verschiedenen Verhältnisse zwischen Natur und Ideal bezieht. Als Satiriker hebt der sentimentalische Dichter die Mangelhaftigkeit der Wirklichkeit dem Ideal gegenüber hervor. Als Elegiker trauert er über die verlorene Natur oder über die Unerreichbarkeit des Ideals. Die höchste Gattung schließlich bildet die Idylle, die in ihrer traditionellen Form einen harmonischen Zustand vor dem Anfang der Kultur (581) darstellt, in dem Geist und Sinnlichkeit zusammenfallen. Diese 'Hirtenidylle' verlegt den Zustand vollkommener Harmonie in die Vergangenheit und erregt daher ein Gefühl des Verlusts. Die höchste Aufgabe, die sich der Dichter nach Schiller stellen kann, ist dagegen eine

Idylle, welche jene Hirtenunschuld auch in Subjekten der Kultur und unter allen Bedingungen des rüstigsten feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten Denkens, der raffiniertesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung ausführt, welche, mit einem Wort, den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurückkann, bis nach Elysium führt. (583)

In ihrer sentimentalischen Form stellt die Idylle das letzte Ziel der Geschichte als erreicht dar. In ihr fallen die Gegensätze Wirklichkeit und Ideal, Sinnlichkeit und Vernunft, Notwendigkeit und Freiheit, die den Prozeß der Geschichte vorantreiben, zusammen, so daß ihr herrschender Eindruck Ruhe der Vollendung wäre.

Schiller ordnet zwar grundsätzlich der Antike die naive Gattung, der Moderne die sentimentalische zu, die Überlagerung von historischer und systematischer Betrachtung führt aber zu Inkonsequenzen. Einerseits bezeichnet er einige antike Dichter, beispielsweise Ovid, als sentimentalisch, andererseits ordnet er Goethe — wie auch schon im 'Geburtstagsbrief' — den Naiven zu. Im ersten Teil der Abhandlung schreibt er:

Dichter von der naiven Gattung sind in einem künstlichen Weltalter nicht so recht mehr an ihrer Stelle. Auch sind sie in demselben kaum mehr möglich, wenigstens auf keine andere Weise möglich, als daß sie in ihrem Zeitalter wild laufen und durch ein günstiges Geschick vor dem verstümmelnden Einfluß desselben geborgen werden. Aus der Sozietät selbst können sie nie und nimmer hervorgehen; aber außerhalb derselben erscheinen sie noch zuweilen, doch mehr als Fremdlinge, die man anstaunt, als ungezogene Söhne der Natur, an denen man sich ärgert. (556)

Goethe als Dichter des Sturm und Drang wäre mit dem Ausdruck 'wild laufen' vielleicht noch zu treffen; der Dichter des 'Tasso' und der 'Iphigenie' kaum. Obwohl die Auseinandersetzung mit dem 'Naturgenie' Goethe für Schiller eine der Triebfedern zur Abfassung des Traktates war, wird er bei der Einordnung Goethes in das Schema am inkonsequentesten. Während die Mehrzahl der gegenwärtigen Dichter in sentimentalischem Geist einen natürlichen Stoff behandelten, verfahre Goethe im 'Werther' (1774), aber auch im 'Tasso' (1790) und in 'Wilhelm Meisters Lehrjahre' (1795/96/) mit einem sentimentalischen Stoff auf naive Weise — eine Charakterisierung, die sich mit der anfänglichen Definition des Naiven als vollkommener Darstellung beschränkter Gegenstände nur schwer in Einklang bringen läßt.

Goethe hat Schillers theoretischer Auseinandersetzung mit ihrer beider gegensätzlichen poetischen Verfahrensweisen schon in seiner Antwort auf den 'Geburtstagsbrief' zugestimmt und damit dem Projekt 'Weimarer Klassik' den Weg eröffnet. Sein erster Beitrag zu Schillers 'Horen', der Novellenzyklus 'Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten' (1795), greift in der Rahmenhandlung den Gedanken Schillers aus der Ankündigung der Zeitschrift auf, den 'unreinen Parteigeist' aus dem 'vertraulichen Zirkel von Musen und Charitinnen' auszuschließen, der die durch die französische Revolution 'politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und der Schönheit' wieder vereinigen soll. Gleichwohl kommt die Revolution zu Beginn des Zyklus ziemlich ausführlich zur Sprache, eine Ironie gegenüber Schillers Idee des 'ästhetischen Zirkels', die sich in 'Hermann und Dorothea' (1798) wiederholt.

Goethe bedient sich in Anlehnung an die Epen Homers in diesem 'idyllischen Epos' der Versform des Hexameters und überschreibt die Gesänge mit den Namen der neun Musen, stellt aber in der antiken Form zeitgenössische Ereignisse dar. Die ästhetische Aufgabe läßt sich also wiederum als Vermittlung von Antike und Moderne, von Naivem und Sentimentalischem oder, in Goethescher Terminologie, von einfacher Nachahmung der Natur und Manier im Stil beschreiben. Im Vordergrund schildert Goethe ein kleines am Rhein gelegenes Städtchen, an dem ein Strom von Flüchtlingen vorbeizieht, die von der französischen Revolutionsarmee von ihren linksrheinischen Gütern verjagt wurden. Diesen ziemlich genau auf das Jahr 1796 datierbaren Ereignissen steht eine Zeichnung der Charaktere gegenüber, die auf alles spezifische wie soziale Konflikte zwischen verschiedenen Klassen oder religiöse Einstellungen verzichtet und so, wie Goethe sagt, das reine Menschliche der Existenz einer kleinen deutschen Stadt in dem epischen Tiegel von seinen Schlacken abzuscheiden sucht (an H. Meyer, 5.12.96). Mit der Schilderung der privat-häuslichen Existenz des 'menschlichen Hauswirts', der 'verständigen Hausfrau', des 'trefflichen Pfarrers', des 'gesprächigen Nachbarn' und des 'wohlgebildeten Sohnes' scheint Goethe die zeitgenössischen Ereignisse ins zeitlose 'allgemein-Menschliche' zu idealisieren.

Das Gedicht wurde enthusiastisch aufgenommen. Schiller sprach vom Gipfel seiner und der unserer ganzen neueren Kunst, Humboldt meinte, die Gestalten seien so wahr und individuell, als nur die Natur und die lebendige Gegenwart sie zu geben, und zugleich so rein und idealisch, als die Wirklichkeit sie niemals darzustellen vermag. Genauer betrachtet, scheint der idealische Ton der 'bürgerlichen Idylle' aber mit einiger Ironie vermischt zu sein. Die selbstgenügsamen, 'rein menschlichen' Gestalten zeigen durchaus negative Züge des Kleinbürgertums, so etwa im Geiz des Apothekers, der den Flüchtlingen gegenüber vortäuscht, augenblicklich kein Geld in der Tasche zu haben und sie daher mit seinem 'guten Tobak' abspeist (VI,206 ff) oder der Mutter Hermanns, die nicht gerne verschenk[t] die abgetragene Leinwand (I,23) und daher so lange, die alten Stücke zu suchen /Und zu wählen (II,13) in ihren Schränken kramt, bis ihr Sohn mit dem schließlich zusammengestellten Bündel den Flüchtlingszug kaum noch erreicht. Mit ähnlichen Vorbehalten wird der Vater Hermanns geschildert, der, um seine Reputation und seine Finanzen aufzubessern, Hermann mit einer der Töchter des benachbarten reichen Fabrikanten verheiratet sehen möchte. Ob die scheinbar zeitlosen Gestalten den Folgen der 'allgemeinen Erschütterung' (IX,299) der gesellschaftlichen Welt tatsächlich auszuweichen vermögen, unterliegt doch einigem Zweifel. Gerade seine vielleicht klassischste Dichtung scheint Goethe in einer ironischen Haltung geschrieben zu haben, die Skepsis gegenüber der eigenen Klassizität verrät.

 

Anmerkungen

1 J.W.v. Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. München: DTV 1981, Bd. 12, S. 240f. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert.

2 Schiller, Sämtliche Werke. Hg.v. G. Fricke und H.G. Göpfert, München 1958 ff. Bd. IV, S. 769.

3 Urfassung der 'Ästhetischen Briefe' an den Erbprinzen von Augustenburg, 13. Juli 1793, zit.n.: Dieter Borchmeyer, Die Weimarer Klassik. Athenäum 1980, S. 205.

4 Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Hg.v. H.G. Gräf und A. Leitzmann. Frankfurt 1964, S. 12.

5 Schiller, SW V, S. 870.

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